Der neue Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters ist ein großer Einiger: Teodor Currentzis verbindet nicht nur Anton Bruckners Neunte Sinfonie und György Ligetis „Lontano“ in der Stuttgarter Liederhalle.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Gesungen und breit. Und männlich!“, knurrte Sergiu Celibidache den Celli der Münchner Philharmoniker bei den Proben für Anton Bruckners Neunte Sinfonie einmal zu, um später im Off und auf dem Kanapee für einen Film zu begründen, warum er so oft Nein sage während der Vorbereitung: „Nicht zu laut! Nicht zu leise! Nicht zu schnell!“, „Hier nicht dies!“, „Hier nicht das!“, und so fort. Es gebe, so Celibidache, einfach Millionen musikalische Neins auf dem Weg zur Wahrheit. „Aber nur ein Ja!“

 

Der Probenmitschnitt ist von 1991 und, wie gesagt, in München aufgenommen, wo Celibidache nach seinen fünf Jahren als Chefdirigent des SDR-Radio-Sinfonieorchesters – mit dem er eminente Aufnahmen der Musik von Anton Bruckner gestaltete – dauerhaft dirigierte. Und natürlich muss man in der Stuttgarter Liederhalle an den menschlich nicht immer angenehmen Exzentriker denken, wenn viele Jahre später ein Nachfolger, ein Mann von jugendlichen 45 Jahren, sich just mit Anton Bruckner vorstellt: auf dem Programm die unvollendete Neunte Sinfonie, verbunden (wie eng verbunden würde sich noch herausstellen) mit György Ligetis „Lontano für großes Orchester“. Knapp hundert Jahre liegen zwischen dem Geburtsdatum des einen (1824) und dem des anderen (1923) Komponisten.

Hochmotiviert und glücklich

Aus nachvollziehbaren Gründen waren Probenbesuche bei Currentzis, der sein neues Amt formal erst im Frühherbst antritt, nicht gestattet. Der gebürtige Grieche, Leiter der Staatsoper in Perm und des Ensembles MusicAeterna, hat, zumal nach seinen Mozart- und Tschaikowski Einspielungen sowie den Aufführungen während der Salzburger Festspiele im Sommer, eine bewegte Zeit hinter sich mit manchmal fast hysterisch anmutenden Debatten über Äußerlichkeiten seiner Person. Kurze, online platzierte Szenen seitens des SWR, ungestellt nach der Probenarbeit aufgenommen, gaben einen Eindruck, wie diese Person auf viele gestandene Musiker des fusionierten Orchesters gerade wirken muss. Die meisten zeigen sich motiviert und glücklich, erfüllt gar. Als habe da jemand zuvor sehr oft „Ja!“ zu ihnen gesagt. Und Ja und noch mal Ja zur Musik.

Bei seinem Debüt mit dem SWR Symphonieorchester (die Hörner oben links platziert, die Bässe außen rechts) tritt Teodor Currentzis ohne viel Aufhebens in einer zweimal hintereinander ausverkauften Liederhalle ans Pult, wo es vor Spannung förmlich knistert. Er hält ganz kurz inne, und dann kommt, nicht aus dem Nichts , aber fast aus dem Nichts, schon einmal ein gleichzeitig sprechendes, stabiles, aber auch fein gewebtes Streichertremolo, das kein Orchester auf diesem Niveau erschaffen kann, wenn es nichts eins wäre. Wahrlich „misterioso“ also – und auch wieder nicht, denn Currentzis ist im Folgenden darauf aus, immer größtmögliche Klarheit zu schaffen: Fast schon übergenau sind die Punktierungen nach dem ersten Fortissimo, wunderbar durchsichtig wird die Kontrapunktik gehalten. Und wann immer es geht, lässt Currentzis das Orchester mit einer Wärme singen, in der sich untergründig – schwer zu beschreiben – immer schon ein leises Frösteln ankündigt.

Soundtrack zu Kafka

Currentzis zielt mit weichen, fließenden Bewegungen, modellierend, aber auch metrisch ganz genau, auf das Menschliche in diesem Stück, Anton Bruckners letzter, dem lieben Gott gewidmeter Sinfonie. Das ist auch eine Tragödie, denn es wird ja final „der Abschied vom Leben“ verhandelt, und das er nicht leichtfällt – trotz aller Rosenkränze, die Bruckner gebetet hat – stellt Currentzis mit den dissonanten Wendungen des zweites Satzes heraus: So hurtig die Pizzicati der Violinen dahineilen, so schnell und gewiss werden sie vom brutalistischen Blech wieder eingeholt. Dass der Mensch womöglich nicht erhoben, sondern zermalmt werden wird: Hier hört man das. Transzendenz und Terror. In der Wiederholung des Scherzo schließlich klingt die Konstruktion gar, als sei sie in der polyphonen Stimmführung der Soundtrack zu Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“. Auf allerhöchstem Niveau musiziert (Flöten, Oboen, Hörner) auch der dritte Satz mit einer nun wieder sehr innigen Wendung ins Gebethafte, Meditative. Teodor Currentzis hat mit Anton Bruckner etwas zu erzählen vom Zustand der Welt und der möglichem Verheißung der Ewigkeit, und er erzählt mit einer Dringlichkeit, die sich jedem im Saal vermittelte. Jedem.

Dann noch ein Coup. Nicht nur nämlich, dass das Konzert ohne Pause gespielt wird. Currentzis verbindet vielmehr die Stücke und schlägt eine Jahrhundertbrücke. Während des letzten Verhauchens der Hörner lässt er die kleine Bruckner-Partitur sinken, um sich im Übergang den großen Seiten von „Lontano“ zuzuwenden: vierfaches Piano, Flöte und Cello. Auch hier wieder hat der Anfang eine ganz besondere, fast magische Wirkung: Wie aus dem vierfachen Piano durch ein kleines Crescendo ein Piano wird, das anschließend erneut als Klang erstirbt(morendo) ist handwerklich großartig und orchestral meisterhaft umgesetzt – es kommen nun auf einmal alle Qualitäten dieses Klangkörpers zum Leuchten –, aber auch von hoher spiritueller Kraft, die wiederum den nachfolgenden kanonischen Prozess unterstützt. Alles fließt – von ganz nah nach weit weg. Wer gespürt hatte, mit wie viel Gefühl und Beteiligung Currentzis Bruckner begegnete, wunderte sich noch einmal. Emotionaler und filigraner ist György Ligeti bis zur letzten atmenden Generalpause wohl noch kaum je gespielt worden. 13 Minuten. Viel zu kurz.

Die Zuhörer in der Stuttgarter Liederhalle, zunächst fast ein bisschen stumm vor Staunen über einen hochintensiven Abend, läutern sich zu Ovationen durch, die Teodor Currentzis, der kam, sang und siegte, sämtlich sehr sympathisch in Richtung des neuen SWR Symphonieorchesters lenkt. Es wird jetzt (s)eins.