Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Staatsmänner wie Helmut Kohl, Erwin Teufel und Edmund Stoiber haben Ihren Versöhnungsvorstoß heftig kritisiert. Man nannte Ihre Wortwahl „unverantwortlich“.
Diese Reaktionen hatte ich einkalkuliert. In der politischen Rede sind manchmal „Catchwords“ wichtig und notwendig. Ich verwendete bewusst das Wort „Versöhnung“. Ja, ich musste für diese Äußerung Prügel einstecken. Das Entscheidende war aber: nach meiner Stuttgarter Rede hat die RAF nicht mehr gemordet.
Sie meinen, dass Sie mit ein paar Sätzen die Terroristen gezähmt haben?
So nicht. Aber es wurde dadurch eine Debatte ausgelöst, wie man Terroristen, die zweifellos Furchtbares begangen haben, eventuell resozialisieren und dem Morden ein Ende bereiten kann. Es fand auf mehreren Ebenen ein Umdenkprozess statt. Ich weiß, dass meine Äußerungen vor allem unter den inhaftierten Terroristen diskutiert wurden. Ein Vierteljahr nach meiner Stuttgarter Rede kündigte die RAF einen vorläufigen Gewaltverzicht an. Dass ich meine Initiative letztlich nicht weiterführen und zu einem offiziellen Ergebnis bringen konnte, lag auch daran, dass ich am 1. Mai 1993 Außenminister wurde und somit für das Thema nicht mehr zuständig war.
Am 27. Juni 1993 wollen die Fahnder einen großen Schlag gegen die RAF führen und die Terroristen Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams verhaften. 97 Mann sind im Einsatz, 37 davon aus der Eliteeinheit GSG 9. Der Zugriff auf dem Bahnhof von Bad Kleinen endet als Desaster: Hogefeld wird rasch festgenommen, aber Grams kann das Feuer eröffnen. Er trifft den Polizeikommissar Michael Newrzella tödlich und kommt dann selbst um. „Der Spiegel“ und „Monitor“ verbreiten, Grams sei durch einen GSG-9-Beamten exekutiert worden. Augenzeugin für diese These ist eine Bahnhofskioskverkäuferin. Der Verdacht wird später durch ein Gutachten ausgeräumt – Grams erschoss sich demnach selbst –, gleichwohl führt der Abschlussbericht zu dem Einsatz 17 gravierende Fehler der Polizei auf. So waren dem toten Terroristen vor der Obduktion die Hände gewaschen worden, so dass die Blutspuren nicht auswertbar waren.
Haben Sie eine Erklärung für die Pannenserie von Bad Kleinen?
Leider gibt es im Sicherheitsbereich immer wieder Pannen. Ein Kernproblem ist, dass wir in diesen Fragen zwischen dem Bund und den Ländern geteilte Zuständigkeiten haben. Wenn der Bund oder die Länder manchmal verbindlich sagen könnten: „So wird’s gemacht“, würde manches wahrscheinlich besser laufen. Die Länder pochen verständlicherweise sehr stark auf ihre Verantwortung bei der Polizei. In Fragen der inneren Sicherheit ist unser Föderalismus nicht immer hilfreich. Die Abstimmungsschwierigkeiten zwischen all den verstreuten Behörden sind manchmal erschreckend – das hat sich nun leider auch wieder bei der Zwickauer Terrorzelle NSU gezeigt.
Begünstigt durch staatliche Fehlleistungen hält sich bis heute die Legende, dass Grams von einem Beamten hingerichtet wurde. Auch bezweifeln noch immer viele, dass sich Baader, Ensslin und Raspe im Stammheimer Gefängnis selbst umgebracht haben.
Die Stammheim-Vorkommnisse haben wir seinerzeit von den besten Gerichtsmedizinern untersuchen lassen – stets mit demselben Ergebnis: Es waren Selbstmorde. Dass sich die Mär von staatlichen Übergriffen hält, ist auch eine Folge der weit verbreiteten Sensationsgier.
Am 28. April 1998 geht bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Brief ein, der mit den Zeilen beginnt: „Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir das Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“ Die Bilanz dieses „Projekts“ laut Bundeskriminalamt: 67 Tote und 230 – oftmals schwer – verletzte Menschen. 500 Millionen Mark Sachschaden. 104 von der Polizei entdeckte konspirative Wohnungen, 180 gestohlene Autos, mehr als eine halbe Million Asservate – Geld, Waffen, Sprengstoff, Ausweise. Elf Millionen Blatt Ermittlungsakten. 517 Personen verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, 914 verurteilt wegen deren Unterstützung.
Wäre das Ende der Roten-Armee-Fraktion früher möglich gewesen, wenn die Politik umsichtiger gehandelt hätte?
Ich glaube eher nein. Es gibt gerade im Sicherheitsbereich Situationen, Vorkommnisse, Entwicklungen, von denen niemand mit Gewissheit sagen kann, was richtig oder falsch ist. Bedenken Sie: Lange fürchteten doch die Bürger, dass der Staat mit dem Terrorismus nicht fertig werden würde. Und nun ist die RAF bereits seit 15 Jahren Geschichte.
Zu RAF-Zeiten gab es Ängste, die Bundesrepublik Deutschland entwickle sich zu einem Überwachungsstaat – Stichwort Rasterfahndung. Wie ist die Lage heute?
Denken Sie an die NSA! Denken Sie an die Vorratsdatenspeicherung, also die Speicherung personenbezogener Daten durch oder für öffentliche Stellen, ohne dass die Daten aktuell benötigt werden. Für mich als Liberalen stimmt mittlerweile oft die Balance zwischen dem berechtigten und auch von den Menschen erwarteten Sicherheitsbedürfnis und der individuellen Freiheit nicht mehr. Der Staat muss Gefahren abwehren und das Risiko mindern, aber er muss auch die Grenze sehen, wo er beginnt, Grundwerte zu bedrohen.