Als Staatssekretär verhandelte Klaus Kinkel 1989 mit Terroristen im Hungerstreik. Später, als Justizminister, strebte er eine „Politik der ausgestreckten Hand“ gegenüber der RAF an.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart – - Klaus Kinkel war FDP-Chef, Bundesaußenminister und Vizekanzler. Weniger bekannt ist, dass sich der Hechinger zuvor in der Innenpolitik den Ruf als Mann für brenzlige Situationen erworben hatte. Kinkel wurde von der Bundesregierung als Unterhändler zu Terroristen im Hungerstreik geschickt und strebte später als Justizminister eine „Politik der ausgestreckten Hand“ gegenüber der RAF an. Wie beurteilt der 77-jährige Politikpensionär sein damaliges Wirken?
Herr Kinkel, wann wurden Sie zum ersten Mal beruflich mit der RAF konfrontiert?
Das war Anfang der siebziger Jahre, als ich persönlicher Referent des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher war. Ich kann mich noch gut an die Festnahme von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins am 1. Juni 1972 in einer Garage bei Frankfurt am Main erinnern. Das war jener Tag, als Horst Herold, der legendäre Chef des Bundeskriminalamts, eine große Zentralfahndung durchführen ließ. Mit Erfolg. Die Sicherheitsleute hatten eine konspirative Wohnung gemietet, die direkt gegenüber der Frankfurter Garage lag. Man konnte also verfolgen, wie die Gesuchten ihre Ersatzfahrzeuge dort wie erwartet abholen wollten. Horst Herold hatte uns gesagt: „Ich bring euch die Leute.“ Er hielt Wort.
Laut der „Süddeutschen Zeitung“ ist Herold „der wohl beste Polizist, den Deutschland je hatte“. Teilen Sie dieses Urteil?
Prinzipiell mag ich solche plakativen Bewertungen nicht. Fest steht, dass sich unter Horst Herold, der zweifellos ein außergewöhnlicher Polizeifachmann war, die Fahndungsmethoden verbesserten. Und dass er mit schier übermenschlicher Kraft der RAF hinterherjagte.
Von 1979 bis 1982 beteiligten Sie sich als Präsident des Bundesnachrichtendienstes an der Jagd – und zwar in fremden Gefilden.
Wir vermuteten damals, dass mehrere RAF-Mitglieder im Nahen Osten untergetaucht waren. Ich flog allein mehrmals in den Irak, sprach zum Beispiel mit Barzan al-Takriti, dem Halbbruder von Saddam Hussein und Chef des Sicherheitsdienstes – wie Saddam Hussein nach dem Umsturz im Irak durch Erhängen hingerichtet –, in der Hoffnung, er könne mir konkrete Hinweise geben. Später stellte sich heraus, dass sich ein Teil der gesuchten Terroristen zu dieser Zeit in der DDR aufhielt. Wir waren also auf einer falschen Fährte gewesen.
Am 1. Februar 1989 fordert der zu lebenslanger Haft verurteilte Helmut Pohl eine „Zusammenlegung aller Gefangenen aus Guerilla und Widerstand in ein oder zwei großen Gruppen“. Pohl und 41 weitere inhaftierte RAF-Mitglieder treten in den Hungerstreik. Nach zwei Monaten, mittlerweile befinden sich mehrere Gefangene in einem lebensbedrohlichen Zustand, wird Klaus Kinkel, Staatssekretär im Justizministerium, von der Bundesregierung als Verhandlungsführer bestimmt.
Sie saßen mit Terroristen an einem Tisch. Wie verliefen diese Gespräche?
Ich war unter anderem zweimal bei Brigitte Mohnhaupt in der Justizvollzugsanstalt Aichach. Sie begegnete mir verstockt. Aufgeschlossener war Helmut Pohl, der nach dem Tod von Andreas Baader zum neuen Wortführer der RAF aufgestiegen war. Pohl war bei unserer Begegnung vom Hungerstreik gezeichnet. Er wirkte sehr angeschlagen, trug mehrere Pullover übereinander, trank viel Wasser und rauchte eine filterlose Gitane nach der anderen. Zum letzten Mal saßen wir uns am 10. Mai 1989 gegenüber. Wenige Stunden später verkündete Pohl das Ende des Hungerstreiks. Ich hörte diese Nachricht später im Autoradio.
Ihr Kompromissvorschlag – eine Zusammenlegung der RAF-Gefangenen in Gruppen zu jeweils fünf Personen – war von den unionsregierten Bundesländern abgelehnt worden. Der baden-württembergische Justizminister Heinz Eyrich meinte, das Ende des Hungerstreiks sei auf die harte Haltung von CDU und CSU zurückzuführen.
Ich verstehe, dass einige aus eher konservativen Ländern stammende Justizminister wie Eyrich – mit dem ich mich im Übrigen immer gut verstanden habe – gegen einen Kompromiss waren: Mit ihrem Staatsverständnis war es unvereinbar, Terroristen Zugeständnisse zu machen. Ich hielt das für falsch, denn die RAF hat auf Härte des Staates stets selbst mit weiterer Härte reagiert. Mein Vorschlag hätte vielleicht die Chance eröffnet, die Spirale der Gewalt früher zu beenden.
Am 30. November 1989 wurde der Deutsche- Bank-Chef Alfred Herrhausen von der RAF ermordet, anderthalb Jahre später der Treuhand-Manager Detlev Rohwedder. Könnten diese beiden Männer noch leben, wenn man – wie von Ihnen gefordert – den Gefangenen im Frühjahr 89 entgegengekommen wäre?
Das kann man so nicht sagen. Liberale, Konservative und Sozialdemokraten vertraten in dieser Frage zwar unterschiedliche Ansichten, wie man handeln sollte, aber wir verfolgten alle dasselbe Ziel: Wir wollten das Phänomen Rote-Armee-Fraktion aus der Welt schaffen.
5. Januar 1992, Parteitag der FDP in Stuttgart. Der neue Hoffnungsträger der Südwestliberalen, Bundesjustizminister Klaus Kinkel, betritt die Bühne und äußert sich zum Streit über die Behandlung inhaftierter RAF-Terroristen. Der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen und müsse sich wehrhaft schützen, sagt er: „Aber er muss auch dort, wo es angebracht ist, zur Versöhnung bereit sein.“