Günther Rathgeb war in den Siebzigern Chef der Stuttgarter Schutzpolizei. Keine einfache Aufgabe in der durch den RAF-Terror extrem erhitzten Stadt. Seit zwei Jahrzehnten ist der 80-Jährige nun Pensionär. Zu sagen hat er aber immer noch einiges.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart – - Wenn sein hellgrauer Mercedes auftauchte, war den  Stuttgarter Schutzpolizisten klar, dass ihr Chef den Einsatz wieder höchstpersönlich vor Ort leitete. Manchmal kam Günther Rathgeb tagelang nicht nach Hause, schlief nachts zwei, drei Stunden auf einem Feldbett. Seit zwei Jahrzehnten ist Rathgeb, 80, nun Pensionär. Zu sagen hat er aber immer noch einiges.
Herr Rathgeb, es gehörte zu Ihren Aufgaben, die Stuttgarter vor der RAF zu beschützen. Wer hat Sie seinerzeit beschützt?
Ich war tatsächlich in Sorge um meine drei Kinder und meine Frau. Die Situation war belastend, aber Schutzmaßnahmen hätte ich als noch belastender empfunden. Ich kenne Matthias Filbinger recht gut, den Sohn des damaligen Ministerpräsidenten. Er hatte als Heranwachsender kein Privatleben, weil er rund um die Uhr bewacht werden musste. Er durfte niemals ohne Begleitung auf einen Spielplatz. So etwas wollte ich meinen Kindern nicht zumuten.
Kurt Rebmann lebte ebenfalls hier oben im Stadtteil Vaihingen, sein Wohnhaus soll einer Festung geglichen haben.
Wir haben um das Gebäude Schützengräben errichten lassen und mit Polizeibeamten besetzt. In der Straße patrouillierten zeitweise Panzerwagen. Frau Rebmann war äußerst fürsorglich zu allen Beamten, sie versorgte sie mit Kaffee und Kuchen.
Und was haben Sie unternommen, um den in Gablenberg beheimateten Hanns Martin Schleyer vor Terrorangriffen zu bewahren?
Schleyer lehnte einen Personenschutz zunächst ab. 1975 bin ich extra mit dem Hubschrauber in sein Ferienhaus bei Meersburg geflogen, um mit ihm in Ruhe zu reden. Erst als er hörte, dass sogar der Gewerkschaftsvorsitzende Heinz Oskar Vetter von uns bewacht wurde, willigte er ein, Polizisten um sich zu dulden. Schleyer sagte allerdings auch klipp und klar, dass er sich davon nichts verspreche.
Im Herbst 1974 wird die Dienststelle Personenschutz bei der Stuttgarter Polizei gegründet. Zu jener Zeit laufen die Vorbereitungen für den Baader-Meinhof-Prozess. Hohe Amtsträger wie der Richter Theodor Prinzing und der Ministerpräsident Hans Filbinger gelten als stark gefährdet. Ein Team, das überwiegend aus jungen Beamten besteht, soll sie beschützen. Auch für Hanns Martin Schleyer, Vorstand bei Daimler-Benz und Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, gilt die höchste Sicherheitsstufe.
Es war bekannt, dass Schleyer ein RAF-Ziel war. Trotzdem gelang es den Terroristen, ihn am 5. September 1977 in Köln zu entführen und sechs Wochen später zu ermorden.
Die Polizei besaß damals überhaupt nicht die Ausrüstung, um eine Entführung zu verhindern. Schleyers Wagen und die der Personenschützer waren nicht gepanzert, seine Begleiter trugen keine Schutzwesten, und die Fahrtroute konnte nicht mit Kameras oder per Satellit überwacht werden. Zudem überforderte uns schlichtweg das Ausmaß der Brutalität, die Terroristen waren rücksichtslos. Die Beamten hatten zwar eine Spezialausbildung, aber in Köln dennoch nicht den Hauch einer Chance.
Drei Ihrer Leute starben: der Polizeihauptmeister Reinhold Brändle sowie die Polizeimeister Roland Pieler und Helmut Ulmer.
Ich habe alle gekannt. Mit Reinhold Brändle war ich eng befreundet. Roland Pieler war gerade 20 Jahre alt, als er gewaltsam ums Leben kam. Er wurde beim Anschlag von unzähligen Kugeln getroffen. Für die Aufbahrung mussten wir einen Ort suchen, wo die Angehörigen die Leichen nur hinter Glas sehen, aber nicht berühren konnten. Pielers Mutter schlug verzweifelt gegen die Scheibe und wollte zu ihrem Sohn. Die anwesenden Kollegen weinten. Helmut Ulmer war zwei Wochen vor seinem Tod bei mir. Er bat mich, ihn von seiner Aufgabe als Personenschützer zu entbinden. Ich sagte zu, seinen Wunsch zu erfüllen, sobald ein Nachfolger ausgebildet sei. Seine Familie hat mir nicht verziehen, dass ich ihn noch einige Wochen einsetzen musste. Ich habe Verständnis dafür, womöglich würde ich genauso reagieren. Allerdings: wenn nicht Helmut Ulmer ermordet worden wäre, hätte es seinen Nachfolger erwischt.
Bei der Suche nach Schleyer fand ein Polizist das RAF-Versteck in einem Hochhaus bei Köln und meldete seinen Verdacht. Niemand nahm diesen Hinweis ernst. Hätte so eine Panne auch in Stuttgart passieren können?
Ja. Wir sollten Gebäude und Personen vor Anschlägen schützen und gleichzeitig Tausenden Hinweisen nachgehen. Zu dieser Zeit verfügten wir kaum über EDV, wir blätterten noch in Karteikästen. Das alles sollte man bedenken, bevor man vorschnell über Fehlleistungen aus jener Zeit urteilt.