Nach und nach ergibt sich ein Bild von den Köpfen, die hinter den blutigen Anschlägen in der belgischen Hauptstadt Brüssel stecken. Außerdem offenbart sich das Versagen der Behörden.

Stuttgart - Die Kritik an der mangelnden Kooperation in der EU war lange bekannt: „Der Informationsaustausch steht in keinem Verhältnis zum Ernst der Terrorbedrohung“, schrieb Gilles De Kerchove, der Antiterror-Beauftragte der EU in einem internen Papier nach den Pariser Anschlägen vom vergangenen November. Getan hat sich dennoch wenig. Hinweise aus der Türkei, die auf eine mögliche Gefährdung durch Ibrahim el-Bakraoui hindeuteten, einen der Attentäter von Brüssel, waren offenbar einfach versickert.

 

Ein Überblick über die Schlüsselfiguren des Terrornetzwerks, den Stand der Ermittlungen und die Fehler der Behörden:

Ibrahim el-Bakraoui, 29, Belgier, sprengt sich am 22. März am Brüsseler Flughafen Zaventem in die Luft. Er hatte zuvor zwei Rückzugswohnungen für Terroristen angemietet, im belgischen Charleroi für die Attentäter von Paris und in Brüssel-Forest. Als die Polizei diese am 15. März stürmt, kommt ein Terrorist ums Leben, zwei können fliehen: Salah Abdeslam und Najim Laachroui, der sich ebenfalls in Zaventem in die Luft sprengt. Einem dritten Täter gelingt die Flucht.

El-Bakroui ist Fahndern vor allem als Krimineller bekannt: 2010 überfällt er in Brüssel ein Western-Union-Büro. Bei der Flucht liefert er sich eine wilde Schießerei mit der Polizei. Er wird zu neun Jahren Haft verurteilt, kommt aber schon 2014 auf Bewährung frei. Obwohl er gegen Bewährungsauflagen verstößt, bleibt er auf freiem Fuß. Die Türkei nimmt ihn im Vorjahr an der Grenze zu Syrien fest und schiebt ihn per Flug nach Amsterdam ab. Sowohl holländische als auch belgische Behörden werden informiert, gehen den Hinweisen allerdings nicht nach. Am Freitag müssen sich Belgiens Innenminister Jan Jambon und Justizkollege Koen Geens dafür vor dem Parlament verantworten. Sie haben bereits Fehler eingeräumt.

Khalid el-Bakraoui, 27, Belgier, sprengt sich am 22. März in der Brüsseler Metrostation Maelbeek in die Luft. Ibrahims Bruder saß wegen Autodiebstahls und Waffenbesitzes in Haft. Auch er kam allerdings vorzeitig frei. Um 9.08 Uhr, drei Minuten vor der Detonation, schickt er eine SMS ab. „Fin“ – Ende. Empfänger: der Verdächtige, den Ermittler am Mittwoch in Gießen festnehmen. Ein weiterer Zugriff erfolgt in Düsseldorf. Die Brüsseler Zelle hat also Kontakte nach Deutschland.

Salah Abdeslam, 26, französischer Staatsbürger, aufgewachsen in Molenbeek, wird am 22. März festgenommen – zwei Tage vor den Anschlägen von Brüssel. Er versteckte sich in Molenbeek im Haus seiner Verwandten Fatima Aberkan. Die ist in Belgien als „Mutter Dschihad“ bekannt, weil drei ihrer Söhne in Syrien für den Islamischen Staat (IS) kämpfen. Ihr Sohn Abid Aberkan trägt am 17. März den Sarg von Ibrahim Abdeslam, Salahs Bruder, der sich in Paris in die Luft sprengt.

Schon vorigen November habe es dazu einen Hinweis gegeben, dieser wurde aber nicht nach Brüssel weitergereicht, räumt der Polizeichef von Mechelen am Freitag ein. „Das war ein Fehler“, so Yves Bogaerts.

Ein weiterer Fehler: in den zwei Tagen zwischen seiner Festnahme und dem Brüsseler Anschlag wird Abdeslam nur einmal verhört. So sei wertvolle Zeit verloren gegangen, rügen Kritiker.

Am Freitag wurde Abdeslam erneut vernommen. Demnach soll er in Brüssel mit zwei Komplizen einen größeren Anschlag mit Schießereien nach Vorbild der Anschläge von Paris geplant haben. Seine eigene Rolle bei den Attentaten in Frankreich spielt Abdeslam dagegen herunter. Er sei durch seinen Bruder „in die Sache hineingezogen worden“. Hauptverantwortlicher für die Anschläge in Paris laut Abdeslam: Abdelhamid Abaaoud. Den habe er vorher nur einmal gesehen, ebenso wie die drei Attentäter im Bataclan.

Drahtzieher der Terrorgruppe

Abdelhamid Abaaoud, 28, Belgier, gilt tatsächlich als Hauptfigur der Terrorgruppe. In seiner Hand laufen viele der losen Fäden zusammen. Abaaoud starb am 18. November 2015 in Saint Denis nahe Paris, als französische Polizisten die Wohnung seiner Cousine stürmen. Er gilt als Planer der Pariser Attentate. Zudem hat er Kontakte zu einer Terrorzelle, die im Januar 2015 im belgischen Verviers auffliegt. Und zu Mehdi Nemmouche, einem französischen Syrien-Rückkehrer, der im Mai 2014 im Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen erschießt. Auch zu Ayyoub el-Khazzini, einem IS-Kämpfer, der im August 2015 im Thalys von Brüssel nach Paris von Fahrgästen überwältigt werden konnte, pflegte er Kontakte. Auch Reda Kriket, der am Freitag nahe Paris festgesetzt wurde, kommunizierte mit ihm.

Abaaoud hatte sich 2013 nach Syrien abgesetzt und dem IS angeschlossen. Er reiste dann mehrfach nach Europa – einmal, um seinen 13-jährigen Bruder Younes für den IS zu rekrutieren. Bei einer Ausreise am 20. Januar 2014 wurde Abaaoud am Flughafen Köln-Bonn kontrolliert, sein Name fand sich im Schengen-Informationssystem (SIS), einer Gefährderdatei. Die deutschen Behörden informieren ihre belgischen Kollegen über seine Ausreise Richtung Syrien.

Fazit: „Vermutlich wurden Fehler gemacht“, sagt Belgiens Justizminister Koen Geens und bietet seinen Rücktritt an. Klar geworden ist, dass die Terroristen in einem losen Netzwerk zusammengeschlossen waren, das für eine ganz Reihe von Anschlagsplänen verantwortlich ist. Die frankofonen Terroristen aus Belgien, Frankreich und teilweise Nordafrika operierten grenzübergreifend. Sie begreifen Europa längst als einen Raum. Im Gegensatz zu den EU-Staaten und ihren Ermittlern.