Die Zuschauer entlasten beim ARD-Themenabend „Terror“ einen Kampfjetpiloten, der eine Passagiermaschine abschießt, um Zigtausende vor einem Terrorakt zu retten. Damit widersprechen sie dem Verfassungsgericht. Dazu ein „Pro und Kontra“.
Stuttgart - Nicht schuldig! Ein überraschend klares Urteil haben am Montagabend die Fernsehzuschauer gefällt, die in der Rolle von Schöffen, also Laienrichtern, an einer fiktiven Gerichtsverhandlung teilgenommen hatten. Die daraus resultierende Urteilsverkündung war der Höhepunkt des spannendsten TV-Experiments seit Langem – des interaktiven ARD-Themenabends „Terror“.
Die Fernsehverfilmung geht zurück auf das gleichnamige Theaterstück des Autors und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach, das im Februar auch Premiere am Alten Schauspielhaus in Stuttgart hatte und schon an vielen Bühnen mit Erfolg aufgeführt wurde. Darin wird der Frage nachgegangen: Darf man unschuldige Menschen töten, um noch mehr Menschen zu retten?
87 Prozent der Zuschauer sind für den Freispruch
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center ist das Ausgangsszenario realitätsnah: Ein Terrorist kapert ein Flugzeug mit 164 Passagieren an Bord. Es zeigt sich, dass die Maschine in die mit 70 000 Fußballfans besetzte Münchner Allianz-Arena stürzen soll. Eine Alarmrotte der Luftwaffe versucht, den Airbus abzudrängen. Als der Terrorist nicht reagiert, trifft der Kampfjetpilot Lars Koch einen Entschluss: Er schießt die Maschine ab. Daraufhin wird er des Mordes an 164 Menschen angeklagt.
Die Zuschauer mussten jetzt abwägen und dann telefonisch beziehungsweise online entscheiden: An die 87 Prozent waren für Freispruch – lediglich 13 Prozent für eine Verurteilung. Der Abschuss sei das objektiv kleinere Übel, befand die Mehrheit.
Der FDP-Politiker Baum sieht das Publikum in die Irre geleitet
Ähnliche Resultate wurden in Österreich und der Schweiz erzielt. Applaus gab es im TV-Studio bei Frank Plasberg, der im Nachgang mit seinen Gästen debattierte. Juristisch gibt es für diesen Fall eine Leitplanke, die in dem Fernsehdrama eine zentrale Rolle spielt – auch weil der Pilot sie wegen der Untauglichkeit im Kampf gegen Terrorismus für falsch hält: In seinem Urteil vom 15. Februar 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht einen solchen Abschuss für grundgesetzwidrig erklärt. 2005 war als Antwort auf „9/11“ ein von der rot-grünen Regierung erlassenes Luftsicherheitsgesetz in Kraft getreten. Es ermächtigte die Streitkräfte, Flugzeuge abzuschießen, die von Selbstmordattentätern als Waffe eingesetzt werden sollen. Das Gesetz, so Karlsruhe, sei nicht mit dem Grundrecht auf Leben und der Menschenwürdegarantie vereinbar, „soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden“. Über die Strafbarkeit im Einzelfall wurde nicht geurteilt. Die Verfassungsbeschwerde hatte unter anderem der FDP-Politiker Gerhart Baum eingeleitet, der nun rügte, dass die Zuschauer „von der Anlage des Stückes in die Irre geleitet“ worden seien.
Ein gutes Jahr nach dem Urteil erklärte der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), dass er ein entführtes Verkehrsflugzeug ohne gesetzliche Grundlage abschießen lassen würde, wenn es kein anderes Mittel gebe, um die Bürger zu schützen. Dazu führte er das Recht des übergesetzlichen Notstandes an. Jung zeigte sich bei Plasberg entsprechend erfreut. Der übergesetzliche Notstand ist rechtlich umstritten, erlaubt aber die Feststellung einer rechtswidrigen Handlung bei einem gleichzeitigen Freispruch. Auf den hatte Anfang Februar dieses Jahres schon die Mehrheit der Premierenbesucher in Stuttgart plädiert – wenn auch nicht in der Deutlichkeit von Montagabend.
Pro Schuldspruch: Rechenschaft schuldig
Darf ein Soldat Herr über Leben und Tod spielen? Wenn es ausschließlich mit Terroristen zu tun hat, ist es seine Aufgabe, den Gegner nach den ihm vorgegebenen Regeln unschädlich zu machen. Wenn er dabei aber einkalkuliert, gleichzeitig viele weitere Menschen zu töten, überschreitet er seine Kompetenzen. Diese Opfer dürfen auch nicht Objekte des Waffeneinsatzes sein, denn dann würden sie vom Staat entmenschlicht. Ihnen würde vielmehr aus einem niederen Grund bewusst das Recht auf Leben genommen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel eins des Grundgesetzes.
Die Opfer und ihre Angehörigen nicht verhöhnen
Das Leben eines Unschuldigen ist nicht gegen das Leben eines anderen aufzuwiegen. Da darf es auch keine Zahlenspiele geben: ob später mehr Opfer zu beklagen wären. Eine genaue Folgenabschätzung vermag ein Kampfjetpilot in so einer zugespitzten Notlage nicht zu leisten. Er müsste viele Fragen sofort beantworten können: Gibt der Terrorist doch noch auf? Haben die Besatzungsmitglieder und Passagiere eine Chance, ihn zu überwältigen? Lässt sich das Stadion zeitig evakuieren? Sterben beim Terrorakt zwangsläufig Tausende Zuschauer? Dies alles kann der Pilot nicht ermessen. Folglich muss, wenn er die Rakete ausklinkt, am Ende der Schuldspruch stehen – auch wenn damit nichts über das Strafmaß ausgesagt ist, denn ein Massenmörder ist anders zu behandeln als ein Soldat, der einen Notstand abwenden will.
Somit gilt die Bewertung juristisch wie moralisch und ethisch: Wenn sich der Pilot für den Abschuss entscheidet, dann muss er auch zu seiner Verantwortung stehen. Wer ihn auch noch als Helden feiert, verhöhnt erst recht die Opfer und deren Angehörige. (Matthias Schiermeyer)
Kontra Schuldspruch: Unschuldiges Bauernopfer
Wer einen Menschen tötet, muss sich dafür vor Gericht verantworten. Wer als Pilot eines Eurofighters ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abschießt, um den Tod von noch mehr Menschen in einem Fußballstadion zu verhindern, auch. Doch das Recht kennt verschiedene Arten von Tötungsdelikten und damit auch unterschiedliche Strafen. Das auszuhalten ist für manche Prozessbeobachter schwer. Denn das Recht richtet zwar den Einzelfall, ordnet ihn aber in ein Wertesystem ein. Und da gibt es von Notwehr bis zu Mord, der die Hilflosigkeit des Opfers ausnutzt, viele Szenarien und Strafen – von Freispruch bis lebenslänglich.
Im Moment redet, wer über das Schirach’sche Terrorszenario spricht, von einem nicht verfassungskonformen Geschehen. Die Bundeswehr darf nicht im Inneren eingesetzt werden. Der Einsatz von Kampfjets zur Terrorabwehr steht also nicht an. Wir führen eine – zugegeben emotionale – Debatte im Konjunktiv, die wir uns nicht aufzwingen lassen sollten.
Wohlfeile Abwälzung
Wenn es via Bühne und Fernsehen nun doch geschieht, gilt auch in ihr: Es darf nicht sein, dass ein Einzelner über Leben und Tod von Flugzeuginsassen oder Stadionbesuchern befindet. Eine Entscheidung von solcher Tragweite muss im Kollektiv getroffen werden. Die Verantwortung kann folglich auch nicht nur der tragen, der auf den Knopf drückt. Handelt er eigenmächtig, geschieht das womöglich in einem Klima des von vielen politisch und praktisch Erwünschten. Diese wohlfeile pragmatische Abwälzung von Verantwortung ist der Skandal. Der Pilot ist dann das Bauernopfer, das unschuldig schuldig wird. (Hilke Lorenz)