Polizei und Geheimdienste verengen die Manövrierräume gewaltbereiter Muslimaktivisten. Razzien sind fast schon an der Tagesordnung – die Risiken ­immens: 25 Terrorverdächtige vom Schlage des Berlin-Attentäters Anis Amri befinden sich auf freiem Fuß.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - An der mit blickdichter Folie verklebten Fensterscheibe hängt ein Zettel, auf dem der Prophet höchstpersönlich warnt: „Ihr werdet nicht das Paradies betreten, bis ihr glaubt.“ Den Laden, zu dem die Schaufensterscheibe gehört, wird vorerst auch keiner mehr betreten. Und vom Paradies wird dort erst recht nicht mehr gepredigt. Am Dienstag hat die Polizei diese Lokalität in Hildesheim in aller Frühe gestürmt. Die Scheibe ging dabei zu Bruch. Der Spruch ist nicht mehr zu lesen. Er war als „Hadith des Monats“ tituliert: ein Zitat, das Mohammed zugeschrieben wird. Aufgehängt hatte es der Deutschsprachige Islamkreis Hildesheim. Der ist jetzt verboten – so wie eine zweistellige Zahl ähnlicher Organisationen, darunter so bekannte wie der Islamische Staat, aber auch unverdächtig etikettierte wie das Waisenkinderprojekt Libanon. Die Sicherheitsbehörden verengen die Räume, die Salafisten bleiben, um ihre Hetzpropaganda zu betreiben.Ein solcher Raum, der jetzt versperrt ist, war das Zentrum des Hildesheimer Islamkreises. Dort soll auch der Berlin-Attentäter Anis Amri schon Glaubensbrüder besucht haben. Und Amri ist kein Einzelfall. Im Vorfeld des Anschlags an der Gedächtniskirche hätten ihm die Sicherheitsbehörden trotz einschlägiger Verdachtsmomente wohl deshalb nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie etliche solcher Personen im Visier hätten, heißt es aus dem Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Polizei und Geheimdiensten in Berlin. Aktuell gebe es bundesweit 25 Fälle wie Amri – dringend Terrorverdächtige, die sich auf freiem Fuß befinden.

 

Anis Amri ist kein Einzelfall

Die islamistische Szene ist weit verzweigt. Fast 10 000 Personen rechnet das Bundesinnenministerium inzwischen zum Milieu der Salafisten, einer besonders strenggläubigen Strömung des Islam. Aus diesem Umfeld kamen die meisten, die in Europa bereits Anschläge verübt haben.

Salafistische Szene wächst rasant

Seit 2013 hat sich die Zahl der Anhänger von salafistisch geprägten Moscheevereinen fast verdoppelt. Nicht jeder von ihnen ist ein potenzieller Terrorist oder auch nur zur Gewalt bereit. 1600 Personen zählen die Sicherheitsbehörde zum harten Kern der Szene, aus der die Islamisten künftige Attentäter rekrutieren. Mehr als 600 gelten als akut gefährlich. Diese Zahl nannte Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), zu Beginn der Woche. Unter diesen sind mehr als 50 Rädelsführer. Bisher sind fast 1000 ähnlich inspirierte Personen aus Deutschland nach Syrien ausgereist, um dort im Bürgerkrieg ihre Gewaltfantasien auszuleben. Ein Drittel ist wieder zurück in Deutschland.

Nach dem Anschlag in Berlin haben Polizei und Geheimdienste eine Offensive auf breiter Front gegen diese Szene eröffnet. Alle paar Tage findet eine Razzia statt. Bis zum 19. Dezember, dem Tag des Berlin-Attentats, habe vielerorts noch eine „naiv-liberale Grundhaltung“ geherrscht, sagt ein Sicherheitsexperte. „Erst dann sind alle aufgewacht“, fügt er hinzu. Seitdem sei ein Umdenken im Gang.

„Im Moment ist Großreinemachen“

„Im Moment ist Großreinemachen angesagt, es herrscht eine ganz andere Gangart“, betont der Mann. „Wer sich jetzt nicht um seine Terrorgefährder kümmert, der würde auch politisch Selbstmord begehen.“ Seit Jahresbeginn hat der Generalbundesanwalt 16 Terrorverdächtige verhaften lassen. Drei von ihnen hatten auch einen deutschen Pass. Die Mehrzahl waren Afghanen und Syrer.

In der vergangenen Woche wurde in Düsseldorf gegen einen 31-jährigen Tadschiken, der Mitglied des IS sein soll, Anklage wegen Verstößen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz erhoben. Am 3. März reichte die Bundesanwaltschaft ebenfalls in Düsseldorf Anklage gegen drei Syrer ein, ebenfalls IS-Aktivisten. Ihnen werden Kriegsverbrechen angelastet. Tags zuvor wurde ebenfalls in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ein 19-jähriger Libanese festgenommen, der für den IS Bomben bastelte. Am 1. März kamen zwei Syrer hinter Gitter, die für die Al-Nusra-Front gemordet haben. Das sind inzwischen Nachrichten aus dem deutschen Alltag.

Experte: Die Justiz hechelt hinterher

In dieses Raster passt auch der 24-jährige Imran René Q. aus Oberhausen, der am vergangenen Samstag versucht hatte, einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum in Essen einzufädeln. Die Spuren des Mannes, der sich aktuell in Syrien aufhält, führen in die nordrhein-westfälische Salafistenszene. Seit Dezember 2015 ermittelt der Generalbundesanwalt gegen den Mann. Er soll versucht haben, Glaubensbrüder über soziale Netzwerke zu einem Attentat in Deutschland anzustacheln. Via Facebook soll er zu mindestens 35 Islamisten Kontakt aufgenommen haben. Die Fahndung via Messengerdienste wie in diesem Fall ist erschwert. Die Nachrichten sind verschlüsselt. Automatische Kontrollen reichen deshalb nicht aus, um Terroralarm auszulösen. Die Sicherheitskräfte müssen sich individuell in einen Account hacken, um kriminelle Botschaften abzufischen. Das ist rechtlich heikel und technisch schwierig.Die Offensive gegen islamistischen Terror leidet bisweilen auch an der Personalnot in den Strafverfolgungsbehörden. Insider berichten über „extreme Engpässe“. Wegen der Vielzahl an Verfahren würden Staatsanwälte bis zur Bundesanwaltschaft „schlichtweg absaufen“. Ein Sicherheitsexperte klagt: „Das ist doch Irrsinn – wir rüsten die Polizei auf wie verrückt, aber die Justiz hechelt hinterher.“