Der Psychologe Gerd Gigerenzer plädiert angesichts der wachsenden Terrorangst für einen vernünftigen Umgang mit Risiken. Schon in der Schule sollten wir lernen, Gefahren realistisch einzuschätzen, sagt der Wissenschaftler im Interview.

Stuttgart - Viele haben Angst vor den falschen Dingen – etwa vor islamistischen Terroranschlägen, findet Gerd Gigerenzer. Weit größere Gefahren würden dagegen oft ausgeblendet. Wichtig sei nicht nur ein rationaler Umgang mit Risiken, sondern auch die Fähigkeit, Entscheidungen aufgrund unvollständiger Informationen zu treffen, sagt der Berliner Psychologe.

 
Herr Gigerenzer, Sie halten Risikokompetenz für eine überlebenswichtige Fähigkeit. Was verstehen Sie darunter?
Risikokompetenz wird im 21. Jahrhundert tatsächlich so wichtig werden, wie es Lesen und Schreiben im 20. Jahrhundert war. Wir sind aber noch weit davon davon entfernt, risikokompetent zu sein. Im Augenblick tun wir wenig dafür, dass die Menschen diese Fähigkeit erwerben. Wenn wir es weiter unterlassen, den Menschen dabei zu helfen, Risiken klar einzuschätzen und vernünftig mit ihnen umzugehen, statt sich zu ängstigen, bekommen wir ein Problem.
Unsere Welt wird immer unübersichtlicher. Aber ist sie auch gefährlicher?
Wir haben neue Arten von Gefahren, die mit der schnellen Digitalisierung und dem globalen Terrorismus zusammenhängen. Aber ich würde nicht sagen, dass wir heute in einer gefährlicheren Zeit leben als früher. Wir werden älter als je zuvor, wir sind gesünder als je zuvor, die Kindersterblichkeit ist zurückgegangen – in vielerlei Hinsicht geht es uns besser. Das ist der erste Punkt der Risikokompetenz: zu verstehen, wo die wahren Gefahren liegen.
Was ist denn wirklich gefährlich für uns?
Die größte Gefahr in Deutschland ist jedenfalls nicht der islamistische Terrorismus. Was wirklich stark zunimmt, das sind Fälle, in denen Menschen durch mangelnde Kontrolle über ihre digitalen Geräte andere gefährden. Wir haben noch keine genauen Zahlen, aber es wird geschätzt, dass in Deutschland jeden Tag ein Mensch stirbt, weil jemand am Steuer Nachrichten auf dem Smartphone liest oder gar eintippt. Allein diese eine Form fahrlässigen Verhaltens stellt für jeden von uns eine viel größere Lebensgefahr dar als der Terrorismus.
Sie sagen, Risikokompetenz kann jeder lernen. Wie geht das?
Zuerst sollten wir uns wie gesagt kundig machen, was wirklich die größten Gefahren sind – hier geht es um Risikointelligenz. Genauso wichtig ist es, die eigenen Emotionen zu verstehen und zu wissen, wer unsere Ängste fernsteuert. In Donald Trumps Wahlkampf wurde massiv Fremdenangst geschürt, Fremde wurden weitgehend mit Terroristen gleichgesetzt. Die große Angst, die viele Amerikaner vor Terroristen haben, ist ursprünglich nicht ihre eigene Angst. Sie diente Wahlkampfzwecken. Zwischen 2005 und 2015 starben 301 797 Amerikaner durch Schusswaffen und nur 94 durch islamistische Terroristen. Die Angst wurde auf den Terrorismus gelenkt, während die Schusswaffenindustrie profitiert.
Angenommen, ich steige abends in eine Bahn und treffe auf ein paar Männer, die sich in einer fremden Sprache unterhalten und bedrohlich wirken. Wie handle ich risikokompetent?
Solche Ängste sind erst mal verständlich, und Vorsicht kann nie schaden. Aber wir sollten überlegen: Wie groß ist die Chance, dass tatsächlich das passiert, wovor ich mich fürchte – und zwar im Vergleich zu anderen Gefahren, die ich eingehe, ohne mit der Wimper zu zucken? Man sollte nicht jedem Fremden misstrauen.
Sie sagen, Faustregeln helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Faustregeln sind ein Mittel, mit Ungewissheit umzugehen. Es geht um die Kunst, unter Zeitdruck und ohne Kenntnis aller Faktoren gute Entscheidungen zu treffen. Eine solche Regel ist zum Beispiel: Kaufe kein Finanzprodukt, das du nicht verstehst. Wenn das vor der letzten Krise jeder beachtet hätte, wäre sie nicht so verlaufen.
Ist Intuition identisch mit Risikokompetenz?
Nein, das ist nicht das Gleiche. Bei Risikokompetenz geht es um bewusstes Wissen. Intuition ist eine unbewusste Form von Wissen. Ihr kann man in Bereichen vertrauen, in denen man viel Erfahrung hat.
Zurück in den Alltag. Wir fahren mit einem Zug nach Paris, wollen das Frühlingsfest besuchen. Das scheinen plötzlich hochriskante Situationen zu sein. Wie geht man damit um?
Der erste Schritt in Richtung Risikokompetenz ist die Erkenntnis, dass Gewissheit eine Illusion ist. Wir können die Vergangenheit verstehen, aber wir können nicht sicher wissen, wie die Zukunft sein wird – gerade wenn es um Terrorismus geht. Bei Autounfällen kann man die Risiken besser vorhersagen. Nehmen wir an, Sie wollen von Stuttgart nach Paris, Sie haben die Wahl zwischen Auto und Flugzeug, und Sie haben nur ein Ziel: Lebendig anzukommen. Dann ist die Frage: Wie viele Kilometer müssen Sie mit dem Auto fahren, bis Ihr Risiko, tödlich zu verunglücken, genauso groß wird wie das eines Nonstop-Fluges? Die Antwort lautet: Etwa 20 Kilometer. Wenn Sie mit dem Auto sicher am Flughafen angekommen sind, haben Sie also den gefährlichsten Teil Ihrer Reise schon hinter sich.
Das bedeutet, ich muss aber wissen, wo ich mir die relevanten Informationen hole, bevor ich eine Entscheidung treffe.
Es gibt in Deutschland viele verlässliche Quellen für Information, die man finden kann, wenn man sich bemüht.
Welche Rolle spielen die Medien mit Blick auf die Risikokompetenz?
Medien versuchen oft Angst zu machen, sie schwimmen dabei auf Wellen: Angst verkauft sich gut. Jede dieser Wellen dauert im Schnitt neun Monate, dann kommt das nächste Thema dran.
Wie sollte eine Berichterstattung aussehen, die den Menschen weniger Angst macht?
Es hat keinen Sinn, terroristische Attacken totzuschweigen. Aber sie nehmen viel zu viel Platz ein. Denn ein Ziel des IS ist es ja, uns allen Angst zu machen. Es geht dem IS darum, unsere Gesellschaft zu destabilisieren, und hier werden die Medien ungewollt zum Werkzeug des IS. Erinnern wir doch einmal die Ängste, die wir vor Jahren hatten: Vor Rinderwahnsinn, SARS, Vogelgrippe, Schweinegrippe. In den Medien wurde jeweils monatelang darüber berichtet, bis man das Thema fallen ließ und wir uns vor der nächsten vermeintlichen Gefahr fürchteten. In Deutschland ist kein einziger Mensch an den Folgen der Vogelgrippe oder des Rinderwahnsinns gestorben – genauer, an der Creuzfeldt-Jakob-Variante. Bei der Schweinegrippe gab es Tote, aber wenige im Vergleich zu den Tausenden von Opfern, die die normale Grippe jedes Jahr fordert. Über Gefahren, die uns wirklich drohen, hört und liest man dagegen vergleichsweise wenig, etwa dass nach Schätzung der AOK jedes Jahr 19 000 Patienten durch vermeidbare Fehler in unseren Krankenhäusern ums Leben kommen.
Sie haben angeregt, Risikokompetenz schon in Schulen zu vermitteln. Wie könnte dieser Unterricht aussehen?
Man kann Kindern spielerisch vermitteln, mit Risiken und Chancen im Bereich von Gesundheit oder Geld umzugehen. Und ihnen beibringen, wie man digitale Geräte kontrolliert statt von diesen kontrolliert zu werden. Erwachsene, die digital abhängig sind, können warnende Beispiele sein.