Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober Leben mit dem Grauen nach dem Massaker im Kibbuz Beeri

Verhüllte Leichen liegen wenige Tage nach dem Massaker, am 11. Oktober aufgereiht auf dem Boden in Beeri. Foto: AFP/JACK GUEZ

Einige ihrer brutalsten Taten hat die Hamas im Kibbuz Beeri begangen. Eine aus Tübingen stammende Frau die noch bis vor kurzem in dem Kibbuz wohnte, beschreibt, wie sie das Massaker in eine schreckliche Zwischenwelt gestoßen hat.

Die Szene fühlt sich unwirklich an, wie Hanna Herwig da so vor ihrem Kaffee sitzt. Alles so schön friedlich hier an diesem regnerisch-trüben Morgen in einem der gemütlichen Cafés in der Tübinger Altstadt. Im Hintergrund ist nur das gedämpfte Stimmengewirr der anderen Gäste zu hören. Hanna Herwig geht es nicht gut, sie ist verängstigt . Ihr richtiger Name wurde für diesen Text daher von der Redaktion geändert. Und sie ist traumatisiert. Die Terrorgruppe Hamas hat einige ihrer brutalsten Taten am 7. Oktober im Kibbuz Beeri verübt, eine Landwirtschaftskooperative rund fünf Kilometer von Israels Grenze mit dem Gazastreifen entfernt und seit zwölf Jahren Herwigs Heimat. Mehr als 100 bis an die Zähne bewaffnete Terroristen überrannten das Kibbuz und töteten, folterten, vergewaltigten, brandschatzten und plünderten viele Stunden lang.

 

Die Frau kann ihre Gefühle schwer in Worte fassen

Die 42-jährige Deutsche ringt mit ihren Sätzen. „Meine Gefühle sind schwer in Worte zu fassen. Nichts mehr ist sicher und stabil, alles ist absolut in der Schwebe.“ Seit dem Sommer lebt die gebürtige Deutsche mit ihrem israelischen Mann, dem Sohn (11) und den zwei Töchtern (9 und 6) für ein Sabbatjahr wieder in Tübingen, wo sie auch ihr Abitur gemacht hat und ihre Eltern zu Hause sind. Ihr Schwiegervater wurde bei der Hamas-Attacke getötet, auch weitere Freunde und Bekannte, andere wurden entführt. Von dem Kibbuz mit ursprünglich 1200 Bewohnern wurden mehr als 130 Menschen ermordet. Von den mehr als 50 Vermissten, die als Geiseln in Gaza vermutet werden, wurden bisher 18 Frauen und Kinder freigelassen. Insgesamt sollen sich noch 138 Geiseln in der Gewalt der Hamas befinden (Stand 6.12.)

„Wir kennen sie alle. Das ist wie in einer Großfamilie“, erzählt die Kibbuz-Bewohnerin. Sie kam über ihr Studium immer wieder nach Israel, lernte ihren Mann kennen, einem Kibbuznik der dritten Generation. Wenn sie über ihr bisheriges Leben dort berichtet, den Kindergarten oder ihre Arbeit in Küche und Speisesaal, leuchten die Augen, und das Leben kehrt zu ihr zurück.

Hanna Herwig (Name von der Redaktion geändert) hat Angst und möchte daher nicht erkannt werden. /Horst Haas

Beeri ist etwas Besonderes: 1946 gegründet, zwei Jahre älter als Israel, pflegt der Kibbuz sein sozialistisch-kooperatives Modell bis heute. Gleichzeitig ist es dank des Anbaus von Avocados und Zitronen und einer Druckerei bis heute erfolgreich. Traditionell sind die Mitglieder in Israels politischem Spektrum eher links und säkular, einige engagierten sich für die Aussöhnung mit den Palästinensern, fuhren Krebspatienten aus Gaza in Krankenhäuser nach Israel. Der barbarische Angriff der Hamas vor acht Wochen ist für sie vorbei und doch nicht vorbei.

Sie wird diesen Tag nie mehr vergessen. Samstagmorgens wachte sie auf und erfuhr in ihrer Whatsapp-Chatgruppe, in der sie sich sonst über die Abgabe von Kinderkleidung oder Fiebermittel austauscht, von Raketenbeschuss und Explosionen am frühen Morgen. Wie die anderen Mütter im Kibbuz machte sie sich zunächst keine großen Sorgen. Das gehört an der Grenze zu Gaza zum Alltag. Eine Mutter habe erst noch etwas Ironisches in den Kanal geschrieben, erzählt die Frau. Doch das änderte sich rasch. „Wir haben einen Terroristen auf der Vordertreppe“, schrieb eine andere Mutter. „Alle sofort in den Schutzraum“ und „Wo ist die Miliz?“ zitiert sie aus den Kurznachrichten.

Schreckensbotschaften in der Whatsapp-Gruppe

Von da an saß sie stundenlang am Handy, fühlte sich hilflos. Später folgten Schreckensbotschaften wie: „Sie haben meinen Mann erschossen.“ Zu ihren Schwiegereltern, die nur ein paar Straßen weiter wohnten, riss der Kontakt ab Mittag ab. „Wir wussten nichts mehr“, erzählt die Frau mit dünner Stimme, aber gefasst.

Erst am darauffolgenden Tag erfuhren sie und ihr Mann, dass der 68-jährige Schwiegervater getötet worden war. „Die Hamas hatten meine Schwiegereltern mit anderen Leuten in einem Nachbarhaus zusammengetrieben“, sagt sie. Für eine geplante Entführung sei es wohl zu spät gewesen. Das Kibbuz sei bereits von israelischen Sicherheitskräften umstellt gewesen.

Geiseln als menschliche Schutzschilde

Die Terroristen hätten mit der israelischen Armee verhandelt. Die Absicht: mit den Geiseln als menschliche Schutzschilde zu entweichen. Dabei sei es zum Schusswechsel gekommen. „Mein Schwiegervater hat sich auf meine Schwiegermutter geworfen.“ Sie hat überlebt. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos des großen kräftigen Mannes, wie er mit einer Tochter schmust oder mit der gesamten Großfamilie stolz im Garten posiert. Dabei schießen ihr die Tränen in die Augen.

Beispiellose Barbarei durch Hamas-Terroristen

Für einige Bewohner von Beeri kam Hilfe früh am Abend, andere mussten bis weit nach Mitternacht ausharren. Der Rettungssanitäter Yossi Landau beschrieb im israelischen Fernsehen einige der schlimmen Anblicke, die er an diesem Tag in Beeri auszuhalten hatte: den Körper einer Schwangeren mit aufgeschlitztem Bauch, das Kind noch im Innern, bei lebendigem Leib verbrannte Kinder, die Körper eines Paares, das mit Handschellen aneinandergekettet war und vor seinen Kindern gefoltert worden war, dem Mann wurde ein Auge ausgestochen. Nach mehr als 30 Jahren Terrorerfahrung sagte er: „Noch nie habe ich dieses Maß an Misshandlungen gesehen.“

Bei der Evakuierung forderten die Soldaten die Eltern auf, den Kindern die Augen zuzuhalten, damit sie die überall herumliegenden Leichen nicht zu Gesicht bekommen. „Ich bin dankbar dafür, dass wir das unseren Kindern ersparen konnten“, sagt Herwig. „Aber auch das Danach.“ 900 der Überlebenden von Beeri wurden per Bus in ein Ferienhotel am Toten Meer gebracht. Dort arbeiten viele Therapeuten. Ihr Mann war auch auf Besuch, um Mutter, Geschwister und Cousins wiederzusehen. „Dort reden alle darüber, was passiert ist. Da bekommen auch die Kinder viel zu viel mit.“

Herwig ist zornig auf Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und dessen „absolutes Versagen“ in Sachen Sicherheit. Sie wünscht sich jetzt nichts mehr, als dass alle Geiseln freikommen, egal zu welchem Preis. „Ich wollte nie, dass meine Kinder mit dem Feindbild Gaza aufwachsen“, sagt sie, aber die Hamas müsse ausgeschaltet werden. Sie glaubt jedoch nicht, dass dies gelingen kann. Überhaupt blickt sie pessimistisch in die Zukunft: „Ich sehe keine Lösung – weder politisch noch militärisch“, sagt sie zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.

Die Zukunft des Kibbuz Be’eri ist völlig ungewiss

Einige Kibbuzniks sind schon wieder in Beeri gewesen, um nach ihren Häusern zu schauen. Viele aber auch noch nicht. Einige halfen bei der Avocado-Ernte, sind aber wieder ans Tote Meer zurückgekehrt. Die Zukunft des Kibbuz Beeri ist völlig ungewiss. Viele Mitglieder wollen zurück: Die Felder sind zu bestellen und Häuser wieder aufzubauen, sagen sie. „Meine Schwiegermutter meint: ,Genug geweint, wir bauen wieder auf‘“, erzählt Herwig, obwohl vom Haus ihrer Schwiegereltern nur noch ein zerbombter Schutzraum übrig ist. Andere sind sich da weniger sicher. Es gebe den Wunsch, auf jeden Fall zusammenzubleiben, aber an einem anderen Ort. Hanna Herwig kann sich derzeit nicht vorstellen, je wieder in ihrem Kibbuz zu leben. „Dann müsste ich immer denken, hier ist der ermordet worden und dort ist das Schreckliche passiert“, sagt sie. „Wie in einer riesigen Gedenkstätte.“ Auch könne niemand garantieren, dass so etwas nicht wieder passiert. Ihr Mann aber meint, dort könne er etwas Sinnvolles tun. Und auch Freunde sagen: „Wir brauchen euch hier.“

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