Immer wieder gibt es in den Atomkraftwerken Voralarm wegen verdächtiger Flugzeuge. Meist merkt die Öffentlichkeit nichts davon. Nun wurden vorsorgliche Evakuierungen durch Zufall publik.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Franz Untersteller (Grüne) machte keinen Hehl aus seinem Entsetzen. „Da stockt einem der Atem!!“, schrieb der Stuttgarter Umweltminister, als er am 10. März auf Facebook einen Medienbericht über die Räumung von Kernkraftwerken verbreitete. Weil zu einem indischen Passagierflugzeug zeitweise kein Funkkontakt bestanden habe, sei in den Meilern vorsorglich Alarm ausgerufen worden. „Ich bin heilfroh“, folgerte Untersteller mit Blick auf die potenzielle Terrorgefahr, „wenn dank des beschlossenen Atomausstiegs spätestens 2022 die letzte Anlage bei uns stillgelegt wird.“

 

Umfassende Vorkehrungen gegen solche Gefahrenlagen

Wie alle Bürger hatte der für die Atomaufsicht zuständige Ressortchef durch WDR-Recherchen von dem „Renegade“-Voralarm erfahren. Renegade, auf deutsch Abtrünniger – das ist der Fachbegriff für Situationen, in denen der Verdacht besteht, dass ein ziviles Luftfahrzeug von Terroristen als Waffe eingesetzt wird. Seit 2003 gibt es, als Folge des Angriffs auf das World Trade Center in New York, umfassende Vorkehrungen für solche Gefahrenlagen. Besonders folgenschwer wäre es, wenn eine Passagiermaschine gezielt in ein Kernkraftwerk gesteuert würde. Keiner der deutschen Meiler wäre ausreichend gegen einen solchen Absturz geschützt.

Abfangjäger nehmen Sichtkontakt auf

Am 10. März war es eine Boeing 787 von Air India, die den Voralarm auslöste. Auf dem Flug von Ahmedabad nach London war der Funkkontakt zur Luftüberwachung erst wackelig und dann ganz abgerissen, offenbar für 22 Minuten. Also kam das übliche Szenario in Gang: Abfangjäger stiegen auf, um Sichtkontakt zu den Piloten herzustellen und zu prüfen, ob alles in Ordnung ist. Erst wurde die Maschine von tschechischen Düsenjets eskortiert, dann übernahmen Eurofighter der deutschen Luftwaffe, schließlich belgische Kollegen. Zeitgleich wurden die Betreiber der deutschen Atomkraftwerke informiert, die umgehend reagierten: Die meisten der noch aktiven Meiler wurden bis auf eine Notbesetzung für eine Stunde geräumt. In Baden-Württemberg evakuierte die EnBW den Reaktor Philippsburg, Neckarwestheim hingegen nicht. Begründung: keine. Wegen der exponierten Lage in der Rheinebene gilt Philippsburg als besonders geeignet für einen Angriff aus der Luft. Wenig später folgte die Entwarnung. Warum der Funkkontakt abgerissen war, blieb offen; in einem früheren Fall war offenbar ein Zahlendreher bei der Funkfrequenz der Grund.

Noch keine konkrete Gefahr

Die Öffentlichkeit hätte von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen sollen. Nur durch einen Zufall erfuhr der WDR von dem Voralarm: Demonstranten vor dem Reaktor Brokdorf bemerkten die Evakuierung und die Gespräche mit der Polizei. So kam es, dass auch Umweltminister Untersteller noch vor der internen Information durch seine Atomaufsicht Bescheid wusste. Die Fachabteilung war umgehend vom Lagezentrum im Stuttgarter Innenministerium informiert worden. Sie muss dann entscheiden, ob ein Notfallstab eingerichtet wird – in diesem Fall nicht – und der Minister unterrichtet wird. Aus Sicherheitsgründen „sollten solche Zufälle eigentlich nicht passieren“, sagt sein Sprecher. Meistens klappt das auch. In den vergangenen fünf Jahren, berichtet das Ressort, habe es acht jeweils bundesweit ausgelöste Renegade- Voralarme für die Atommeiler gegeben, meist ohne öffentlichen Wirbel. Es bestehe zwar Anlass zu „erhöhter Wachsamkeit“, aber „noch keine konkrete Gefahr“.

Was genau dann in den Atomanlagen geschieht, wird natürlich nicht verraten. Zu den vorsorglichen Maßnahmen gehöre die „Teilräumung der Gebäude“, heißt es. Der teilweise vorhandene „Tarnschutz“ durch die Vernebelung der Anlagen komme noch nicht zum Einsatz. Gegen den Absturz eines Militärflugzeugs seien die verbliebenen deutschen Reaktoren „ausgelegt“, sagt der Sprecher Unterstellers. Bei einer Passagiermaschine seien hingegen „größere Schäden“ zu befürchten – wegen der enormen Masse, aber auch der Treibstoffmengen, hatte ein Experte unlängst erläutert. Nach Fukushima seien die Meiler auch auf ihre „Robustheit gegen Flugzeugabsturz“ geprüft worden, teilte das Ministerium mit. Derzeit führe die Reaktorsicherheitskommission weitere Untersuchungen zu den Folgen einer Terror-Attacke aus der Luft; Ergebnisse stünden noch aus. Für die Grünen-Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl war die europaweite Gefahren-Analyse nach Fukushima „letztlich nicht mehr als ein schlechter Scherz“. Die Bundesregierung solle „endlich die Initiative für einen ernsthaften Terror-Stresstest europäischer Atomkraftwerke ergreifen“, fordert die Karlsruher Atomexpertin.

Neue Erfordernisse für eine schnelle Kommunikation

Nach dem aktuellen Vorfall fordert sie auch einen anderen Umgang mit solchen Lagen. „Derartige Voralarme und ihr Ausgang sollten zumindest im Nachhinein transparent gemacht werden.“ Angesichts der deutschlandweiten Relevanz müsse die Bundesregierung erklären, „was geschieht und aus welchen Gründen“, sagt Kotting-Uhl unserer Zeitung. Für den Staat sei das eine Gratwanderung: es gelte, „weder Schaden durch ausbrechende unangemessene Panik anzurichten, noch das Vertrauen der Bevölkerung durch unangemessene Geheimniskrämerei zu verspielen“.

Zumindest bei zwei grünen Landesumweltministern läuft sie damit offene Türen ein. Angesichts der neuen Kommunikationskanäle gebe es „neue Erfordernisse für schnelle und zuverlässige Kommunikation“, hatte der niedersächsische Ressortchef Stefan Wenzel gleich nach dem Vorfall betont. Sein Stuttgarter Kollege Untersteller sieht das ähnlich. Wann ein Ernstfall vorliege und die Bevölkerung informiert werde, sei im Einzelfall zu entscheiden; bei einem bloßen Voralarm wäre es jedenfalls zu früh. Panik zu schüren würde letztlich nur den Terroristen nützen. Angebracht wäre es für Untersteller hingegen, im Nachhinein über einen Voralarm zu informieren – so wie man das seit langem mit meldepflichtigen Ereignissen in den Reaktoren mache. Das müssten Bund und Länder gemeinsam entscheiden. Untersteller selbst plant laut seinem Sprecher keinen Vorstoß; eine Initiative seines Kollegen Wenzel würde er jedoch unterstützen.

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