Die frühere RAF-Terroristin Verena Becker hat vor Gericht eine Erklärung verlesen. Zur Wahrheitsfindung trägt das wenig bei.

Stuttgart - Ist das noch ein ganz normaler Strafprozess? Der Nebenkläger, Sohn des Mordopfers, würdigt, der Angeklagten freundlich zugewandt, dass Verena Becker überhaupt etwas gesagt hat. Zuvor schon hatte er aufgezählt, was alles er noch wissen möchte. Jetzt lockt Michael Buback, der es nach 88 Verhandlungstagen doch besser wissen müsste, damit die Angeklagte noch ein bisschen mehr sagt.

 

Walter Venedey und Wolfgang Euler, Beckers Verteidiger, sagen, sie „verstehen sehr gut die Ungeduld“ Bubacks, der so gerne schon früher etwas von der Angeklagten gehört hätte. Dies aber sei ein Strafprozess, und der hätte wegen der Aufklärungspflicht des Gerichts keinen Tag kürzer gedauert, wenn ihre Mandantin schon zu Beginn ausgesagt hätte. Das, was Buback erhoffe, die Wahrheit, werde er in diesem Prozess wohl nicht bekommen. Im Übrigen sei das vom Nebenkläger vermisste Reuebekenntnis in solchen Prozessen zwar üblich, aber selten glaubwürdig.

Hermann Wieland, der während der vergangenen Monate oft um die Wahrheit flehende Vorsitzende Richter des 6. Strafsenats des Stuttgarter Landgerichts, sagt lauter Dinge, die so selbstverständlich sind, dass ein Richter sie nicht sagen sollte: Es sei das Recht Beckers, erst jetzt zu reden. Das Gesetz sehe das vor, „auch wenn es ungewöhnlich erscheinen mag“. Das Gericht werde „jeden Erkenntnisgewinn aufnehmen und würdigen“. Na, hoffentlich.

Und Verena Becker selbst sagt, sie rede über das, „was ich nach außen zu verantworten habe“. Wie es innen bei ihr aussehe, „wie ich ansonsten mit meiner Vergangenheit umgehe“, das müsse sich Außenstehenden nicht erschließen. Sie wende sich an das Gericht, nicht an Michael Buback. All ihre früheren „Selbstbefragungen“ in Richtung Buback – die Ermittler hatten Aufzeichnungen voller Skrupel gefunden – seien durch die Anklage überholt.

Das alles erinnert eher an eine Selbsterfahrungsgruppe denn an den deutschen Gerichtsalltag, so wie er sich binnen mehr als 100 Jahren herausgemendelt hat. Es geht um Gefühle. Und um das Spiel mit den Gefühlen – auch die Gefühle der Zuhörer. Lange war der Gerichtssaal leer, jetzt drängen sich hundert.

Verena Becker ist wegen Mordes angeklagt. Sie soll als Mittäterin an dem Anschlag der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dessen beiden Begleiter beteiligt gewesen sein, die am 7. April 1977 in Karlsruhe im Dienstwagen erschossen worden sind. Dass Becker am Tatort gewesen ist, unterstellt die Bundesanwaltschaft nicht, das vermutet nur Michael Buback. Der lange Prozess hat die Anklage nicht in vollem Umfang gestützt; das Gericht hat erklärt, es komme auch eine Bestrafung nur wegen Beihilfe in Betracht.

Verena Becker hat während des Prozesses anderthalb Jahre geschwiegen. Gestern hat sie den Vorhang geöffnet, für zwanzig Minuten. Sie hat eine Erklärung verlesen in einer Sprache, die besonders erfahrene Verteidiger pflegen: ebenso klar wie nichtssagend. Dann ging der Vorhang wieder zu. Fragen hat sie nicht zugelassen.

Zur Tatzeit will sie im Jemen gewesen sein

Die Angeklagte ist eine körperlich kleine Frau, gezeichnet von ihrem Leben und von einer Autoimmunkrankheit. Sie hat die Erklärung ohne Stocken vorgetragen. Auch das ist in ihrer Situation eine Leistung.

Verena Becker berichtet, sich bis zum 8. April 1977, also noch einen Tag nach dem Buback-Mord, im Jemen aufgehalten zu haben. Sie sei damals über Rom gereist. Von dem Attentat habe sie dort erst am 8. April aus den Medien erfahren. Becker sagt, sie sei mit einem gefälschten Pass gereist. Sie nennt den Namen, auf den er ausgestellt war. Hätte sie vorher von dem Attentat gewusst, wäre sie nicht gereist – wegen des erhöhten Risikos, entdeckt zu werden.

Weitere Einzelheiten, mit denen ihre Aussage überprüft werden könnten, nennt sie nicht. Am Rande des Prozesses sagt ein Vertreter der Bundesanwaltschaft, derartige Pässe seien von der RAF auch hergestellt worden, um reale Reiserouten zu verschleiern. Da die Anklage Becker keine unmittelbare Tatbeteiligung vorwirft, ist die Frage, wo sie am Tattag war, auch nicht prozessentscheidend.

Wichtiger ist da schon, an welchen Treffen der RAF Becker dabei war und welche Rolle sie dort spielte. Die Angeklagte bestätigt, bereits 1976 in Aden über „militante Aktionen in der BRD“ gesprochen zu haben. Damals seien noch keine Entscheidungen gefallen. Auch bei einem RAF-Treffen Ende 1976 im Harz sei sie dabei gewesen. Damals sei über einen Anschlag auf Buback diskutiert, Einzelheiten seien aber noch nicht festgelegt worden. Sie habe sich „in keiner Weise hervorgetan“. Richtig sei, „dass alle in der RAF von einem starken Bedürfnis geleitet waren, die Gefangenen der RAF zu befreien.“ Deshalb seien „von uns allen“ auch Aktionen gegen Buback für richtig befunden worden. An der konkreten Planung des Attentats sei sie aber nicht beteiligt gewesen.

Entscheidend für den Prozess könnte ein drittes Treffen Anfang 1977 in Holland sein, wo die RAF das Attentat beschlossen haben soll. Becker bestätigt, am Anfang dabei gewesen zu sein. Sie sei aber vorzeitig gegangen. „Ich hatte unverschiebbare Verabredungen.“ Wann genau sie ging, ob bereits über das Attentat gesprochen worden war, zu wem sie ging, sagt Becker nicht. Im März 1977 sei sie erneut in den Nahen Osten gereist und erst am 8. April zurückgekommen.

Michael Bubacks Hoffnungen zerstreuen sich

Becker bestätigt, nach dem Attentat RAF-Aktivisten getroffen und Briefumschläge mit Bekennerschreiben der Terroristen verschlossen zu haben. Das stand bereits auf Grund von DNA-Spuren fest. Die Angeklagte sagt nun, der Bekennerbrief sei bei ihrer Ankunft schon fertiggestellt gewesen. Dies könnte für die Richter nicht ganz unwichtig sein; entscheidend aber ist ihr Wissen und Wollen vor der Tat.

Die Aussagebereitschaft der Angeklagten ist streng budgetiert. Doch manches von dem wenigen, was sie sagt, ist für den Ausgang des Prozesses ohne Bedeutung. Sie bestreitet, dass sie damals ein Motorrad hätte fahren können; sie habe keine Ausbildung gehabt. Buback war von einem Motorrad aus erschossen worden. Niemand aber hat Becker vorgeworfen, dieses Motorrad gesteuert zu haben. Becker beteuert, nie mit der Tatwaffe geschossen zu haben, die bei der Festnahme im Mai 1977 bei ihr gefunden worden war. Das ist auch nicht Gegenstand der Anklage.

Becker beteuert, vor dem Attentat nicht in Karlsruhe gewesen zu sein. Die Aussage einer Frau, die sie kurz vor der Tat dort gesehen haben will, sei falsch. Die Glaubwürdigkeit dieser Zeugenaussage war bereits in der Vergangenheit angezweifelt worden. Sie spielt im Prozess keine große Rolle.

Michael Bubacks Hoffnung, Verena Becker werde die Mörder seines Vaters benennen, erfüllt sie nicht: „Diese Frage kann ich ihnen nicht beantworten, denn ich war nicht dabei“, so die Angeklagte. Buback sagt dazu: „Man kann natürlich auch Wissen haben, wenn man nicht dabei gewesen ist.“

Die historische Wahrheit wird hier nicht zutage treten

Zu ihren späteren Kontakten mit dem Verfassungsschutz sagt Becker nichts. Sie betont, sich mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben und „seit Mitte der achtziger Jahre einen eigenen Weg gegangen zu sein.“ Das ist unbestreitbar und wird nicht unwichtig sein für das Urteil.

Verena Becker ist wegen einer anderen Tat Ende 1977 bereits einmal zu lebenslanger Haft verurteilt und 1989 nach zwölf Jahren Haft begnadigt worden. Wenn es denn zu einem Schuldspruch kommen sollte, muss die alte Strafe mit der neuen verrechnet werden. Länger als Lebenslänglich gibt es in Deutschland nicht. Die Begnadigung darf dabei keine Rolle spielen. Es ist kein Zufall, dass Verena Becker heute frei ist. Rein strafrechtlich betrachtet ist das so quälend lange Verfahren inzwischen viel Lärm um nur noch wenig. Für die historische Wahrheit sind andere zuständig. Einige der Prozessbeteiligten wollen das aber bisher noch nicht wahrhaben.