Exklusiv Mehr als 400 Islamisten sind bisher von Deutschland aus nach Syrien aufgebrochen. Ihre Zahl steigt und damit auch die Terrorgefahr hierzulande. Drei Radikale aus Baden-Württemberg sind in Syrien bereits gestorben.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stuttgart - Anfang August sah sich der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zu einer Zahlenkorrektur genötigt. „Wir wissen mittlerweile von über 400 Ausreisen“, sagte er der dpa. Noch im Juli war von 300 radikalisierten jungen Männern die Rede gewesen, die von Deutschland aus nach Syrien gereist waren. Offenbar nehmen die verdächtigen Reisetätigkeiten rapide zu, seit immer mehr Details von den Gräueltaten der Terrororganisation IS öffentlich werden.

 

Viele der Reisenden sind den deutschen Behörden längst als radikalisierte Salafismus-Anhänger bekannt. Dass sie sich begeistert der IS anschließen, dafür gibt es immer wieder Hinweise, die oft von der Terrormiliz selber stammen. So soll diesen Sommer ein deutscher Selbstmordattentäter aus Dinslaken (Nordrhein-Westfalen) mit einem Lastwagen voller Sprengstoff in einen Kontrollposten von Peschmerga-Kämpfern gefahren sein und dabei sich und 20 Menschen getötet haben. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es, wie für die meisten im Internet verbreiteten Bekennermitteilungen aus Reihen der IS, nicht.

Bisher kämpfen 20 Männer aus dem Land in Syrien

Nach Kenntnis des baden-württembergischen Verfassungsschutzes sind bisher etwa 20 Männer aus dem Südwesten zum Kampf nach Syrien aufgebrochen. Das geht aus einem internen Papier hervor, das auch die Landespolizei verwendet. Zwar stellen die Verfassungsschützer in Stuttgart fest, es gebe „keine Hinweise auf eine aktuell drohende konkrete Gefahr“ durch Salafisten in Baden-Württemberg, doch eine „abstrakte Gefahr“ sehen sie durchaus.

Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Zahl der freiwilligen Kämpfer aus Deutschland noch höher ist. Ein Sprecher des Innenministers Reinhold Gall (SPD) sagt, es müsse von   einer „Dunkelziffer“ ausgegangen werden. Viele Verdächtige reisten über Drittländer nach Syrien, die Verfolgung solcher Reisewege sei nicht immer möglich. Andererseits müsse berücksichtigt werden, dass ein Teil der Reisenden, darunter viele Exil-Syrer, aufgebrochen sei, um sich im humanitären Bereich zu engagieren.

Die Salafisten sind den Behörden bekannt

Das dürfte allerdings nicht für jene Salafismus-Anhänger gelten, die den Behörden längst bekannt sind. In Baden-Württemberg handelt es sich aktuell um rund 550 Personen. Sie leben oder lebten bis vor Kurzem übers halbe Land verstreut. Das Arbeitspapier des Verfassungsschutzes nennt als Zentren der Salafisten Freiburg, Göppingen, Heidelberg, Heilbronn, Karlsruhe, Mannheim, Pforzheim, Stuttgart, Ulm, Villingen-Schwenningen und den Ortenaukreis.

Die Zersplitterung der Szene ist auch eine Folge der verschärften Überwachungsmaßnahmen seit etwa 2005. Über Jahre hinweg war Ulm ein unentdecktes bundesweites Zentrum zur Anwerbung deutscher Konvertiten zum Islam gewesen. Immer wieder brachen von der Donau aus Radikale in Kriegsgebiete auf, um dort selber zu den Waffen zu greifen. Thomas „Hamza“ F. war einer der ersten jungen Männer, deren Tod aufhorchen ließ. Er war auf einem Schlachtfeld bei der tschetschenischen Hauptstadt Grosny von russischen Truppen getötet worden. Auch die 2007 aufgeflogenen Sauerlandattentäter Fritz G. und Attila S. hatten sich in Ulm kennengelernt und dort ihre Terrorpläne gefasst.

Um einige Radikale gibt es einen „Veteranenkult“

Als in Baden-Württemberg endlich das ganze Ausmaß der radikalislamistischen Umtriebe bekannt war, zerstob die Szene unter dem Druck permanenter Verfolgung – auch bis nach Nordrhein-Westfalen. Das hatte zum Jahresende 2013 zu einem Disput zwischen dem Innenminister Gall und seinem Amts- und Parteikollegen in Düsseldorf, Ralf Jäger, geführt. Zuerst hatte sich Gall öffentlich gewundert, von NRW gehe „eine relative Anziehungskraft auf die Szene“ aus; so machten die Anstrengungen zur Terrorbekämpfung im Südwesten wenig Sinn. Die Landesregierung in Düsseldorf wies den Anwurf pikiert zurück.

Von Baden-Württemberg aus seien bisher jedenfalls vergleichsweise wenige Radikale nach Syrien aufgebrochen, heißt es aktuell aus dem Innenministerium. Die Freude darüber ist dennoch begrenzt. Mancher Radikale, so die Erfahrung, kehrt nach geraumer Zeit nämlich nach Deutschland zurück – geschult im Umgang mit Waffen und nicht selten umweht vom frisch erworbenen Ruf, nunmehr erfahrener Kämpfer für einen islamistischen Gottesstaat zu sein. Um einzelne bekannte Radikale habe sich bereits ein „Veteranenkult“ gebildet, stellt das Verfassungsschutzamt in Stuttgart fest. Von solchen „radikalisierten Multiplikatoren in der Szene“ gehe eine Gefahr für die Zukunft aus.

Drei Radikale aus dem Land sind in Syrien gestorben

Es gibt ein Behördenraster für die kampfwilligen jungen Männer, die von Deutschland aus den Weg nach Syrien suchen. 85 Prozent von ihnen sind demnach Muslime von Geburt an, 15 Prozent Konvertiten. Etwa zwölf Prozent der IS-Sympathisanten sind in Deutschland geboren, etwa die Hälfte dieser Gruppe hat einen Migrationshintergrund. Vor allem einen „arabischen Hintergrund“ nennen die Behörden, daneben gebe es einen „deutlich kleineren Anteil mit türkischem Hintergrund“.

Das passt zumindest teilweise auf drei bekannte Radikale aus Baden-Württemberg, die bisher in Syrien den Tod gefunden haben. Es handelt sich um einen 42-jährigen gebürtigen Serben, der zuletzt in Schwieberdingen (Kreis Ludwigsburg) lebte. Er war im August über die Türkei nach Syrien ausgereist, ohne Freunde oder Familienmitglieder zu informieren. Vermutlich am 13. März ist er getötet worden. Am selben Tag soll offiziell unbestätigten Informationen zufolge auch ein 18-Jähriger aus Kirchheim/Teck zu Tode gekommen sein. Der gebürtige Esslinger war ebenfalls über die Türkei nach Syrien gereist. Vermutlich am 7. April starb ein 32-jähriger gebürtiger Turkmene, der von Villingen-Schwenningen aus aufgebrochen war. Wann genau, können deutsche Behörden nicht mehr nachvollziehen.