Testturm bei Rottweil Der Wunder-Aufzug lässt auf sich warten

Hier wird das Aufzugsystem „Multi“ erprobt: der Testturm bei Rottweil Foto: Thyssen-Krupp Elevator AG

Im Rottweiler Testturm wird eine Aufzugtechnik erprobt, die Branche und Städtebau revolutionieren soll. Doch das erste Praxisprojekt ist geplatzt, die Entwicklung zieht sich hin.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Lange war der Aufzug-Testturm bei Rottweil coronabedingt geschlossen. Seit Ende Juni dürfen Besucher wieder auf die 232 Meter hohe Aussichtsplattform mit dem spektakulären Rundumblick, in den Sommerferien sogar täglich außer montags. Keine Pause gab es für die Techniker des Betreibers TK (früher Thyssen-Krupp) Elevators, in Rottweil und im Entwicklungszentrum in Sielmingen bei Stuttgart. Sie hätten „die Corona-Zeit intensiv genutzt“ und machten „gute Fortschritte auf dem Weg zur Marktreife“, sagt eine Firmensprecherin.

 

Gemeint ist eine neue, bahnbrechende Aufzugtechnik, die in dreien der zwölf Schächte des Rottweiler Turms erprobt wird: der „Multi“. Unter diesem Namen entwickelt TK Elevators ein Gebäudetransportsystem, das der Branche eine neue Ära bescheren soll und dem Städtebau weltweit neue Möglichkeiten. Vereinfacht lässt sich die ohne Seile auskommende Technologie als Kreuzung aus Paternoster und Transrapid beschreiben: Angetrieben von Linearmotoren wie in der Magnetschwebebahn, bewegen sich mehrere Kabinen in einem einzigen Schacht – und das nicht nur vertikal, sondern auch horizontal.

Neue Rekordhöhen für Wolkenkratzer möglich

Vorbei sollen damit die Zeiten sein, wo man gerade in hohen Gebäuden lange auf den Fahrstuhl warten muss. Die Kabinen kämen in erheblich kürzerer Frequenz, und sie könnten wesentlich mehr Menschen befördern. Zudem seien sie ungleich leichter und benötigten deutlich weniger Platz, verheißt TK Elevators. Ist bei konventionellen Aufzügen die Höhe noch limitiert, allein durch das Gewicht der Seile, soll der „Multi“ keine Grenzen mehr kennen und dabei äußerst sicher sein. Möglich würden so „neue Rekordhöhen für Wolkenkratzer“, sogar ganze Städte könne das System verbinden. Angesichts des Trends zur Urbanisierung erhoffen sich die Konstrukteure für ihre Erfindung eine große Zukunft.

Wann aber wird es so weit sein? Man liege im Zeitplan, versichert eine Sprecherin in der Düsseldorfer Konzernzentrale. Doch Zeitpläne sind relativ und lassen sich ändern. Als der Vorstandschef Andreas Schierenbeck 2017 gefragt wurde, wann der „Multi“ auf den Markt komme, nannte er als Termin 2019/2020. Man habe in Berlin einen ersten Kunden gewonnen, den niederländischen Projektentwickler OVG. Eingesetzt werde die revolutionäre Technik im East Side Tower, einem Büroturm an der Spree.

Erster Einbau in Berlin wieder abgeblasen

Seither hat sich einiges geändert. Der Stahlkonzern Thyssen-Krupp verkaufte die ertragsträchtige Aufzugssparte für 17 Milliarden Euro an Finanzinvestoren. Schierenbeck ging ebenso wie diverse weitere Manager. Und im East Side Tower wird der „Multi“ zunächst doch nicht eingebaut. Das Nutzungskonzept des Gebäudes habe sich während der Planung geändert, was durchaus vorkomme, sagt die TKE-Sprecherin. Von der Projektgesellschaft gibt es keine Prognose, ob man die Technik künftig zu nutzen plane. Ist der Wunderaufzug also ins Stocken geraten?

Keineswegs, heißt es bei TK Elevators. Bei jeder bahnbrechenden Innovation gebe es im Entwicklungsprozess neue Erkenntnisse, die Anpassungen erforderten und weitere Verbesserungen ermöglichten; darin hätten die Forscher- und Entwicklerteams viel Erfahrung. Mit der Genehmigung für das allgemeine Konzept durch das niederländische Liftinstitut habe der „Multi“ bereits einen wichtigen Meilenstein genommen, die nächsten seien die Zertifizierung des Komponentendesigns und die europäische Typgenehmigung, die man bis Ende 2023 anstrebe. Eine zweistellige Zahl von Patenten sei bereits eingetragen, weitere seien angemeldet. Zugleich erhalte der „Multi“ reihenweise hochkarätige Auszeichnungen - meist für die Innovation an sich, aber auch fürs Design. Bei der Weltausstellung Expo in Dubai, die am 1. Oktober beginnt, werde das System im Deutschen Pavillon präsentiert, als „digitales Exponat“.

Der Testturm als „perfekte Referenz“

Wo aber wird der Wunderaufzug, nach der Absage aus Berlin, erstmals bei einem Kunden eingesetzt? Dazu kann die Konzernsprecherin nichts Konkretes verraten. Man verzeichne ein „sehr reges Interesse“ an dem Konzept und sei „mit einer Vielzahl an Architekten, Gebäude- und Stadtentwicklern in Gesprächen“, sagt sie allgemein. Natürlich seien Referenzprojekte immer schön, „weil sie Innovationen erlebbar machen und imageträchtig sind“. Aber man habe für den „Multi“ bereits eine „perfekte Referenz“, nämlich den Rottweiler Testturm.

Noch darf der Aufzug dort allerdings keine Menschen transportieren. Ersatzweise, hört man, werden Sandsäcke rauf- und runtergefahren. Für echte Passagiere wird, nach der bis 2023 erhofften EU-Genehmigung, noch eine nationale baurechtliche Abnahme benötigt. Wie lange diese dauere, so die Sprecherin, sei „schwer vorherzusagen“.

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