Ohne Rücksicht auf Arbeiter und Umwelt zu nehmen, produziert China massenweise Textilien, auch für Deutschland. Ein schmutziges Geschäft.

Xintang - Yu Li hat die Hände eines Außerirdischen. „Sieht aus wie ein blauer Alien“, scherzt der Enddreißiger und macht Krallen. Die blaue Farbe reicht bis an die Unterarme und lässt sich schon lange nicht mehr abwaschen. Doch daran hat sich Yu Li ebenso gewöhnt wie an den Juckreiz, den die Chemikalien auf seiner aufgeweichten Haut auslösen. Zwölf Stunden steht er jeden Tag an einer großen Waschtrommel, in der Jeanshosen mit Lavasteinen und Bleichmitteln geschleudert werden, um diesen den modischen „Stone-washed-Look“ zu verleihen.

 

Pro Schicht gehen Tausende von Jeans durch seine Hände. Am Monatsende bekommt er dafür 1800 Yuan, umgerechnet rund 200 Euro. Nicht nur auf Yu Lis Haut hinterlassen die Bluejeans Spuren, sondern auch in der Umwelt. Aus einem Rohr in der Fabrikmauer fließt tiefblaues Abwasser in den Fluss. An dessen stinkenden Ufern türmen sich blaugefärbte Müllberge, in denen sich Ratten tummeln, deren Fell ebenfalls die Farbe der Jeans angenommen hat.

Einzig der Himmel ist nicht blau, sondern hängt in schwerem Smoggrau über Xintang, einem Industrieort in der südchinesischen Provinz Guangdong, der in der Textilbranche den Spitznamen „Welthauptstadt der Bluejeans“ trägt. Mehr als 260 Millionen Hosen werden jährlich in Xintang genäht, gefärbt, gebleicht, gewaschen, bedruckt, abgerieben und kunstvoll zerschlissen. Nach offiziellen Statistiken wird knapp die Hälfte davon exportiert.

Gravierende gesundheitliche Folgen für die Bevölkerung

Rund 700.000 Menschen arbeiten in Xintangs gut 4000 Jeansunternehmen, darunter riesige Färbereien und Akkordnähereien mit Tausenden von Angestellten, aber auch kleine Familienbetriebe, in denen man häufig Kinder bei der Arbeit sieht. Berühmte Modemarken lassen hier ebenso fertigen wie Grabbeltischhändler. Egal wo auf der Welt man eine Jeans kauft – die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Xintang stammt, ist groß. Damit besteht auch eine direkte Verbindung zwischen Millionen deutschen Jeansträgern und einer Umweltkatastrophe gewaltigen Ausmaßes.

Greenpeace kam in einer heimlich durchgeführten Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Xintangs Fluss Dong, der in den großen Perlfluss mündet, stark mit Schwermetallen und anderen Chemikalien aus der Textilindustrie belastet ist. Allein die Konzentration des Krebs erregenden Cadmiums lag 128-mal über dem in China zulässigen Höchstwert. „Viele Unternehmen verwenden in ihrer Produktion Schwermetalle und entsorgen diese gefährlichen Chemikalien einfach in der Umwelt“, urteilte die Umweltschutzorganisation.

Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung dürften gravierend sein, was sich jedoch nicht belegen lässt, weil die lokale Regierung keine unabhängigen Untersuchungen zur Situation in ihrer Stadt erlaubt. Xintang ist unter Chinas Industriestädten kein Einzelfall, eher ein Prototyp. Dass die Volksrepublik heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, verdankt sie maßgeblich einem Wachstumsmodell, das auf Umwelt und Arbeiterrechte wenig Rücksicht nimmt.

Umweltschutz im Zentrum politischer Aufmerksamkeit

Zwar hat der Boom seit Anfang der Achtziger Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut befreit, doch welchen Preis das Land für diesen Fortschritt bezahlen muss, wird zunehmend sichtbar. „Das Bruttoinlandsprodukt hat für die Politik Priorität, egal wie es zustande kommt“, sagt Chen Gang, Experte für chinesische Umweltfragen an der National University of Singapore. „Die Regierung weiß zwar, dass dieses Modell nicht nachhaltig ist, aber ein neues ist bis jetzt nicht in Sicht.“

Das sieht man in Peking anders. Anfang März hat der Nationale Volkskongress, Chinas Quasiparlament, einen neuen Fünfjahresplan verabschiedet, der den Umweltschutz ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit rückt. Mit Milliardeninvestitionen will der Staat die Entwicklung „grüner Technologien“ fördern und sie nicht nur in China breitflächig einsetzen, sondern auch in großem Maßstab exportieren. Außerdem soll die Leistung lokaler Parteichefs nicht mehr nur an Wachstum und Investitionen gemessen werden, sondern auch an der Einhaltung von Ökostandards.

Optimisten beschwören Chinas „grüne Revolution“ herauf. Dabei sind die Ankündigungen keineswegs neu. Schon seit Jahren verspricht Peking, die Umweltprobleme mit einer Mischung aus Hightech und Verwaltungsreformen zu bewältigen, bis jetzt ohne Erfolg. Eine im Auftrag der Regierung erstellte Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich die Folgekosten der Umweltzerstörung 2008 auf umgerechnet 144 Milliarden Euro beliefen.

In der Luft liegt der stechenede Geruch des Flusses

„Der Druck, Verschmutzung und Umweltschäden zu bewältigen, steigt, und die Verschmutzungskosten sind in den fünf Jahren (2003–2008) um 75 Prozent gestiegen“, heißt es in dem Bericht. Sprich: Chinas Umweltzerstörung wächst deutlich schneller als die Wirtschaft. Experten haben berechnet, dass sich der verheerende Trend nur stoppen ließe, wenn China zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in den Umweltschutz investieren würde; um die bestehende Verschmutzung allmählich zu beseitigen, müssten es sogar drei Prozent sein.

„Ich bin nicht sehr optimistisch, dass China in absehbarer Zeit Herr der Lage wird“, sagt Chen Gang. „Dafür fehlen leider die richtigen Strukturen.“ Was er damit meint, zeigt sich in Gurao, einem fünf Autostunden südöstlich von Xintang gelegenen Landkreis, der ebenfalls von der Textilindustrie lebt. 80 Prozent der schätzungsweise 300.000 Einwohner produzieren Unterwäsche. Auf den Fabrikhöfen der selbst ernannten „City of Sexy“ sieht man Kisten mit BH-Lieferungen für ausländische Kunden wie die Bekleidungsmarktkette Kik. Auch Zhang Xuemei arbeitet für den deutschen Markt.

Die 41-jährige Wanderarbeiterin aus der Provinz Sichuan sitzt vor ihrem Haus und schneidet abstehende Fäden aus Herrentangas mit Leopardenmuster. Für jede Unterhose gibt es einen Fen, das sind 0,1 Cent. „An einem Tag schaffe ich zwischen 500 und 700 Stück“, sagt Zhang. Dass Guraos Fabriken sparen, wo sie nur können, kann Zhang buchstäblich riechen. In der Luft liegt der stechende Geruch des nahen Flusses Ximei, dessen Wasser seine Farbe mit den Moden ändert: Mal ist er blau, mal rot, mal schwarz. Aus den Tiefen steigen faul riechende Gasblasen auf. 

„Natürlich macht die Stadt uns krank“

„Die Verschmutzung ist bis ins Grundwasser gedrungen“, sagt Zhang. „Wasser zum Kochen und Trinken müssen wir auf dem Markt kaufen.“ Ein Eimer kostet fünf Cent – das entspricht 50 Schlüpfern oder einer knappen Stunde Arbeit. Obwohl die Verschmutzung und ihre Ursachen offensichtlich sind, gehört die Umwelt für die Menschen in Gurao nicht zu den Hauptsorgen. „Natürlich macht die Stadt uns krank“, sagt die Besitzerin eines Kleinunternehmens schulterzuckend. „Aber wenn wir Geld verdienen wollen, müssen wir das eben in Kauf nehmen.“

Anlagen zur Abwasserreinigung würden die Färbereien der Stadt teuer zu stehen kommen und angesichts des harten Verdrängungswettbewerbs in der Branche womöglich in den Ruin treiben. „Wem es hier nicht gefällt, der kann ja wegziehen“, meint die Unternehmerin. Auch in der Kreisverwaltung verschließt man vor den Umweltproblemen die Augen. „Ist der Fluss Ximei wirklich so dreckig“, fragt Chen Wenjia, der Chef der lokalen Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei.

Vor vier Jahren sei er aus einem anderen Landkreis nach Gurao geschickt worden, doch die Verschmutzung des Flusses sei ihm noch nie aufgefallen, erzählt er. Nichtsdestotrotz befinde sich derzeit Guraos erste Kläranlage im Bau, fügt er stolz hinzu. Fließen seit Jahrzehnten also alle Abwässer ganz offiziell ungefiltert in den Fluss? Wie passt das zu Pekings Vorgabe, lokale Parteichefs müssten sich nicht nur um Wirtschaftswachstum kümmern, sondern auch um Umweltschutz?

Der Umweltschutz war nur Mittel zum Zweck

Chen erklärt freimütig, dass die Parteichefs in Gurao zu schnell wechseln, um effektive Maßnahmen einleiten zu können. „In meiner Zeit hier habe ich sieben verschiedene Parteichefs erlebt“, sagt er. Der Grund für die schnelle Rotation – normalerweise bleiben Parteichefs mindestens drei Jahre – ist ein offenes Geheimnis: In Problemstädten wie Gurao will niemand die Verantwortung für die Missstände übernehmen. „Die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, ist institutionalisiert“, erklärt der Politologe Zhao Litao.

„Pekings Direktiven werden in den Provinzen häufig ignoriert.“ Fragt man chinesische Experten nach einem Beispiel für eine chinesische Stadt, in der Umweltprobleme erfolgreich gelöst wurden, blickt man in betretene Gesichter. Zwar wurde in Peking vor den Olympischen Spielen 2008 der größte Verschmutzer der Stadt, das Stahlwerk Shougang, umgesiedelt oder in Shanghai für die Weltausstellung 2010 eine alte Schwerindustriezone saniert.

Doch bei allen Erfolgsgeschichten war der Umweltschutz nur Mittel zum Zweck, um das Image einer Stadt zu verbessern oder neues, teures Bauland zu erschließen. „In Chinas großen Städten hat sich in den vergangenen Jahren zwar einiges verbessert, aber dafür wird die Verschmutzung ins Hinterland verlegt“, erklärt Forscher Chen Gang. Vorvergangenes Jahr war auch die Jeanshauptstadt Xintang von einem derartigen Verschmutzungsumzug betroffen. Weil die nahe Metropole Guangzhou die Asienspiele ausrichtete, bestand die Provinzregierung darauf, Xintangs schlimmste Schandflecke zu beseitigen.

Die Schuld liegt auch bei den Kunden

„Entlang den Hauptstraßen wurden Dutzende von verschmutzenden Fabriken abgerissen“, erklärt ein lokaler Unternehmer. „Aber ein paar Kilometer weiter haben sie alle wieder aufgemacht.“ Die Schuld für das ökologische Laisser-faire sieht er allerdings nicht nur bei Politikern und Fabrikbetreibern, sondern auch bei den Kunden aus dem In- und Ausland, die unentwegt die Preise drücken. Machen sich westliche Jeansträger – und Käufer anderer Made-in-China-Waren – also mitschuldig an Chinas ökologischer Tragödie und deren gesundheitlichen Auswirkungen auf Millionen Menschen?

Fakt ist: bei den meisten chinesischen Produkten ist die Herkunft kaum nachzuvollziehen, ein Umstand, der schäbige Herstellungsbedingungen begünstigt. Fakt ist aber auch, dass der öffentliche Druck auf große Markenunternehmen, in ihren Fabriken von sich aus für einwandfreie Verhältnisse zu sorgen, seine Wirkung nicht verfehlt. „Wir sind gerne bereit, unser Werk jedem zu zeigen“, erklärt Fang Yong, Exportleiter des chinesischen Textilkonzerns Conshing Clothing, der unter anderem Jeans für Marken wie Vero Moda, Jack & Jones, Polo und Guess produziert.

Die 4000-Mitarbeiter-Fabrik am Rande von Xintang zeigt, dass Jeansfabriken keine Umweltsünder sein müssen: Die Angestellten an den großen Waschmaschinen tragen Handschuhe, die Arbeiter mit den Farbspritzen benutzen einen Mundschutz und die Abwässer fließen in ein modernes Klärwerk. „Unsere Produktionskosten sind natürlich höher als in den Fabriken, denen die Umwelt und ihre Mitarbeiter egal sind“, sagt Fang. Doch der Aufpreis lohnt sich für die Marken allemal, lässt er sich dem Endverbraucher doch gleich mehrfach in Rechnung stellen. Denn welcher westliche Kunde weiß schon, dass selbst eine Jeans aus bester organischer Baumwolle in Fangs Fabrik gerade einmal 15 Euro kostet?