Das Stuttgarter Theater am Faden feiert sein 45-jähriges Bestehen mit einem Gastspielprogramm

Stuttgart - Seine Kleidung ist geflickt, doch sein Blick bleibt entschlossen und sein Schwert bereit. Immer wieder zieht Joringel in den Kampf gegen den Drachen, immer wieder ist er Sieger – obwohl er bereits fünfzig Jahre alt ist. Joringel war die erste Marionette, die Helga Brehme geschnitzt hatte. Die Zeit kann ihm scheinbar nichts anhaben – ebenso wenig wie seiner 78-jährigen Meisterin.

 

Seit 45 Jahren ist Brehme Leiterin, Produzentin, Marionettenlenkerin und allgemeine Zauberin des von ihr gegründeten Stuttgarter Theaters am Faden, das im Juni sein Jubiläum mit einem Gastspielprogramm feiert. Am 11. März 1972 tat das Puppentheater zum ersten Mal seine Türe auf – damals in einer ehemaligen Polsterwerkstatt in der Böblinger Straße. 1989 zogen Brehme und ihr Mann Karl Rettenbacher samt Puppen in die Hasenstraße, wo sich das Theater bis heute befindet.

Eine ganze Stuttgarter Generation ist mit Brehmes Puppen groß geworden. Die Kinder, die in vielen Jahrzehnten bei den Vorstellungen staunten, sind inzwischen erwachsen und bringen nun ihren eigenen Nachwuchs mit. Für viele sei dieses Theater der wichtigste Ort in Stuttgart, sagt Brehme über ihr kleines Märchenreich.

Die Semester in Prag waren prägend

Das Handwerk lernte Brehme an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste. Am prägendsten waren aber die drei Semester an der Prager Akademie der Musischen Künste, Abteilung Puppenspiel. Dort kam Joringel zur Welt, der Brehme bis in das mit Efeu zugewachsene ehemalige Winzerhaus in der Hasenstraße begleitete. Marionetten aus Holz, Schattenspielgestalten aus Leder, Figuren aus Metall – überall in den Räumen steht, hängt und sitzt Personal aller Art. „Puppen eignen sich am besten, um Märchen und Archetypen darzustellen“, sagt sie.

Märchen sind das Fachgebiet des Theaters. Das Repertoire ist klein, aber stimmig, an jedem Stück wird lange gearbeitet. Bei dem kasachischen Märchen „Ein Garten in der Wüste“, für das Brehme zusammen mit einem Bildhauer Figuren mit neuer Anatomie entwickelte, wirken mehr als vierzig Geschöpfe aus Ton und Holz mit. Bei dem ungarischen Märchen „Der sternäugige Schäfer“ sind es mehr als fünfzig Puppen.

Das Theater ist für die kleine Frau mit den weißen Haaren buchstäblich ihr Zuhause – sie wohnt im oberen Stockwerk. Für Besucher, die zu den Vorstellungen kommen, gibt es Kaffee, Tee und hausgemachten Kuchen – das ganze Haus duftet dann nach warmem Teig und Zucker. Vor dem Stück erklärt Brehme die Geschichte und klärt über die Volkstraditionen anderer Länder auf.

Auch russische Gäste sind dabei

In kein anderes Land ist Brehme so viel gereist wie nach Russland. Dreißig Mal war sie dort, zuletzt vor fünf Jahren, ein wenig Russisch spricht sie auch. Es ist keine kleine Reise, und die Tickets sind teuer geworden. „Früher konnte man für 100 Mark nach Tomsk fliegen“, sagt sie. Umgekehrt kommen die russischen Theater immer noch gerne nach Stuttgart. Die Kontakte sind fast so alt wie die Wiedervereinigung. Es sind in Russland nicht einfach Kollegen, mit denen sie an Stücken arbeitet – mit der Zeit sind es Freunde geworden.

Beim kommenden Festival sind vier russische Puppentruppen dabei, so wie das Theater Skomorokh, das aus Tomsk in Sibirien anreist. Für die russischen Spieler ist Stuttgart eine völlig andere Erfahrung als sonst. „Das Figurenspiel in Osteuropa ist an große Theater angepasst“, sagt Brehme. „Sie haben dort viel mehr Leute auf der Bühne. In Deutschland ist alles kleiner, intimer.“

Lediglich zehn eigene Stücke hat das Theater am Faden in der gesamten Zeit seines Bestehens entwickelt. In jedes neue Projekt fließen viel Arbeit und Leidenschaft – und wenn es einmal steht, wird es nicht so leicht wieder aufgegeben. Acht der Eigenproduktionen spielt Brehme immer noch regelmäßig – darunter „Jorinde und Joringel“. Als ihr Mann noch am Leben war, führten sie das Grimm-Märchen zusammen auf. Seit Karl Rettenbachers Tod im Jahr 2007 zieht Brehme die Fäden alleine. „Wenn das Stück für mich nicht stimmt, kann ich es nicht spielen“, sagt sie. „Wenn es stimmt, kann ich es auch fünfzig Jahre lang.“ Lässt sie den Popanz tanzen, bewegen sich ihre Finger wie die einer Pianistin. Leicht, natürlich, fast wie von selbst.

Die Zukunft ist ungewiss

Doch auf lange Sicht ist die Zukunft des Hauses gefährdet. Brehme spielt bei allen Stücken selbst – das will sie im Moment nicht aufgeben. „Ich sage immer, dass ich noch fünf Jahre mache“, erklärt sie. „Aber man weiß ja nicht, wie lange die Knochen noch mitmachen.“ Was danach passieren wird, ist unklar. Ihre Tochter, die mit ihrer Familie ein paar Häuser weiter lebt, hilft ihr zwar. Aber um das Theater später weiterführen zu können, um alle Stücke einzustudieren, braucht es viel mehr Zeit als jemand nebenberuflich aufbringen kann. „Ich würde am liebsten jemanden einstellen“, sagt Brehme. Das Gehalt eines Lehrlings zu bezahlen, wäre ihr allerdings nur mithilfe der Stadt Stuttgart möglich. Einen Zuschuss möchte Brehme nun beantragen.

Eine Interessentin für die Nachfolge gibt es allerdings. Brehmes Enkelin Nora sitzt auf dem Karussell im Hinterzimmer des Theaters und sagt mit breitem Lächeln: „Ich möchte Sängerin und Tänzerin werden. Vielleicht übernehme ich auch irgendwann das Theater.“ Das würde aber noch etwas dauern – Nora ist acht Jahre alt.

Alle Veranstaltungstermine unter www.theateramfaden.de