Am Wochenende ist das Festival Theater der Welt eröffnet worden und versetzt sogleich die kurpfälzische Metropole in schönste Erregung. Festivalchef Matthias Lilienthal ahnte bereits im Vorfeld, dass sein erster Festivalgast Furore machen würde.

Stuttgart - Mit diesem Auftakt nach Maß hat niemand gerechnet. Niemand außer dem Festivalchef Matthias Lilienthal, der vermutlich ahnte, dass sein erster Festivalgast Furore machen würde: Vor einer Woche hat Jacob Appelbaum mit mehreren Kollegen des ,,Spiegel“ den Henri-Nannen-Preis für Enthüllungen in der NSA-Affäre bekommen. Und was macht er jetzt, in seiner Rede zur Eröffnung von Theater der Welt in Mannheim? Der US-Journalist distanziert sich von der Auszeichnung und begründet das mit der Nazi-Vergangenheit des Preispatrons. Mit einem Paukenschlag holt er also nach, wozu ihm sieben Tage zuvor beim Festakt in Hamburg der Mut gefehlt hat: „Ich spürte den sozialen Druck des Konformismus. Ich griff nicht nach dem Mikrofon. Ich schäme mich dafür, aber ich brachte auf der Bühne kein Wort hervor“, sagt der nach Berlin emigrierte Wikileaks-Aktivist, der nun auf einer anderen Bühne, jener des Mannheimer Nationaltheaters, die Beichte ablegt. Appelbaum, Atheist mit jüdischen Wurzeln, nimmt sich diese Freiheit – und das Festival gewährt sie ihm als Selbstverständlichkeit.

 

Das Theater stößt ins Architektonische vor

Das bisher Ungehörte hörbar, das bisher Ungesehene sichtbar machen: wie im Fall Appelbaum war diese intellektuell-ästhetische Freiheit schon immer das Ziel von Theater der Welt, dem 1981 gegründeten und seitdem alle drei Jahre in eine andere Stadt wandernden Festival. Ausgerichtet vom Internationalen Theaterinstitut bringt es Novitäten aus aller Herren Länder nach Deutschland, die mit ihrer Innovationskraft die heimische Produktion beflügeln sollen. Dass im Zuge dieses Export-Import-Geschäfts auch der Theaterbegriff hin- und hergeknetet wird, liegt auf der Hand, auch und gerade in Mannheim, wo der unangefochtene Guru der Off-Szene fürs Programm verantwortlich zeichnet. Lilienthal hat in Berlin das Hebbel am Ufer zum Dorado der internationalen Szene gemacht und setzt hier nun seine Pionierarbeit fort. Planmäßig weitet er die Kampfzone aus und stößt endlich auch ins touristisch Architektonische vor: Besucher von Theater der Welt können im eigens errichteten „Hotel shabbyshabby“ übernachten. Aber noch ist es Tag, noch folgt auf die Rede von Jacob Appelbaum ein Stück von Elfriede Jelinek: „Die Schutzbefohlenen“, zum Festivalstart uraufgeführt von Nicolas Stemann.

Bis zu den Brandmauern aufgerissen zeigt sich die vom Regisseur entworfene Bühne. Hinten eine Reihe roter Hartschalensitze, rechts ein Podest mit Elektropiano, links ein Tisch mit Utensilien, die für live produzierte Projektionen benötigt werden: eine Mischung aus öffentlichem Amt, intimer Bar und Theaterwerkstatt, ein hybrider Allzweckraum, der zunächst von dokumentarischen Videos beherrscht wird. Auf der Leinwand, auf die auch die Gitterprojektionen geworfen werden, berichten Flüchtlinge von ihrem Schicksal in Europa, bis dann leibhaftig auch Schauspieler auftreten und vom Blatt einen Text lesen, der typisch Jelinek ist. Statt individuelle Figuren zu zeigen, macht sie wieder überindividuelle Stimmen hörbar, die mehreren Kollektiven zugehören und sich unablässig ineinander verschieben: Textflächentheater, das in der Vergangenheit nicht immer überzeugt hat und die Autorin bisweilen auch als Blenderin erscheinen ließ.

Elfriede Jelinek auf der Höhe ihrer Kunst

Jetzt aber, in den „Schutzbefohlenen“, zeigt sich Jelinek auf der Höhe ihrer Kunst. Ihre sonst oft belanglos kalauernden Textschollen verhaken sich so druckvoll ineinander, dass sie sich tatsächlich zu einer nachvollziehbaren Botschaft auftürmen: Das Stück ist eine von tiefem Ernst getragene Anklage der europäischen Flüchtlingspolitik, verbunden mit dem Appell, die von Frontex gesicherte „Festung Europa“ zu schleifen. Auf diese appellative Stoßrichtung verweist schon der Stücktitel: Aus den „Schutzflehenden“ des Aischylos, auf die sich die Dramatikerin bezieht, werden eben die „Schutzbefohlenen“, die zur Jahreswende 2012/13 aus einem Asylantenheim bei Wien ausgebrochen und in die Stadt gezogen sind, um dort in einer Kirche um Asyl zu bitten. Daher die Videos, daher auch die Rosetten- und Spitzbogenfenster, die zitathaft vom Bühnenhimmel herabfahren: Stemann dringt in dem mit dem Hamburger Thalia-Theater koproduzierten Flüchtlingsstück kongenial zu den Tiefenschichten des Textes vor.

Und dazu, zum dunklen Untergrundrumor, gehört auch unser verlogen heiteres Bild vom offenen Europa. Die Spieler, darunter Sebastian Rudolph, Felix Knopp und Barbara Nüsse, treten als Ölfass, Diamant und Mobiltelefon auf und sind jederzeit einreiseberechtigt – als Rohstoff und Ware wohlgemerkt, nicht aber als Mensch, der diese Rohstoffe und Waren in Drittweltländern produziert. Wenn diese Menschen aber doch kommen und als Begrüßungsgeschenk graue Trainingsanzüge erhalten, erweist sich auch die Hilflosigkeit selbst der Gutmeinenden. Auch sie konstruieren sich ein Bild vom Asylanten, dem sie, wenn er erst mal erschlagen ist, noch was drauf setzen, aufs Grab, versteht sich. „Ein Bärli, ein Bärli“ singen die jetzt in Abendkleidern steckenden Spieler bei einer sentimentalen Charity-Show, die mit ihrer Erhellungskraft stellvertretend für die ganze, von einem zwanzigköpfigen Flüchtlingschor verstärkte Uraufführung steht: Nichts und niemand entgeht der Analyse von Jelinek & Stemann, kein Mensch und keine Ideologie. In ihrem Säurebad-Theater lösen sich alle Gewissheiten auf. Und wie zuvor bei Jacob Appelbaum, einem anderen Schutzbefohlenen, nun auch hier: Jubel!

Prozession aufgetakelter Literaturleichen

Nun aber in den Shuttlebus und von der Innenstadt raus in den Stadtteil Käfertal. Dort, in der Alstom-Halle, präsentiert Dmitry Krymov „Tararabumbia“, eine Tschechow-Revue aus Moskau mit hundert Beteiligten, die allerdings keineswegs willens sind, mehr als nur zwei Sätze Tschechow zu sprechen. Sie erheben lediglich den Anspruch, in einem graubraun kostümierten Who-is-Who seine Dramenfiguren zu repräsentieren. Und wenn der Zuschauer sie nun auf einem Laufband rein- und rausfahren sieht, dämmert es ihm, dass er abermals einem Auflösungsprozess beiwohnt: Ein Nationaldichter wird dekonstruiert, indem sein Personal, erstarrt zu Denkmälern der russischen Lethargie, aus dramatischen Lebenszusammenhängen gerissen wird. Mehr noch: es wird auch vervielfacht, weshalb Dutzende von Irinas und Trigorins, Olgas und Tusenbachs an uns vorbeidefilieren, aufgetakelte Literaturleichen, die zudem – dritte und letzte Idee der Regie – mal übergroß mit Stelzen, mal unterklein als Marionetten erscheinen. Was soll man mit solchen Zombies bloß anfangen?

Klar, man muss sie entsorgen. Dass es sich bei der Tschechow-Prozession um eine ideologische Säuberung handelt, daran lässt Krymov keinen Zweifel. Am Ende, nachdem schon Taucher und Synchronschwimmer der heldenhaften Sowjetrepublik vorbeigezogen sind, gibt sich auch eine Delegation aus Hamlets Helsingör die Ehre – und auch wenn „Tararabumbia“ mit Tschingderassabum alles wegbefördert, was uns heilig ist, wirkt die Transporthow auf Dauer brav, einfältig und ermüdend.

Offenbarungen der Wachheit

Über all dem ist es Nacht geworden in Mannheim. Wie andere Festivalbesucher auch haben wir, von Neugier gepackt, im „Hotel shabbyshabby“ eingecheckt. Die Zimmerauswahl ist groß, Architektenteams aus aller Welt haben mit enormer Fantasie 22 Hütten, Röhren und Container entworfen und über die gesamte Stadt verteilt. Wir übernachten in „3-Lichter“ am Neckarufer, einer Art Baumhaus, das aber nicht um eine Platane, sondern um eine Laterne an der Uferpromenade gebaut ist – und wir tun kein Auge zu, so hell und hellhörig ist die Unterkunft. Wir brechen das Experiment ab. Macht aber nichts: unter Laborbedingungen kann auch Schlaflosigkeit zu einer jener Offenbarungen werden, mit denen Matthias Lilienthal und sein Theater der Welt weiter punkten wollen – noch zwei Wochen im theatralisch derzeit aufs Schönste erregten Mannheim.