Unser Reporter Ingmar Volkmann war Freitagnacht Teil eines Theaterexperiments, Thema: der Stuttgarter Dada-Vorreiter Johannes Baader. Ein Selbstversuch zwischen Schreichor und nackter Haut.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Wie viel Bohème, wie viel unkonventionelles Künstlerleben steckt heute noch in Stuttgart? Dieser Frage geht derzeit die an den Wagenhallen beheimatete freie Theatergruppe O-Team in ihrem Stück „Corporate Bohème“ auf den Grund. Am Freitag feierte die interaktive Aufführung an einem geheimen Ort im Stuttgarter Osten Premiere.

 

Das Kollektiv um Schauspieldramaturgin Antonia Beermann und ihre Mitstreiter Folkert Dücker, Samuel Hof und Nina Malotta behandelt in einer Mischung aus Maskenball, szenischem Theater und gefühltem LSD-Versuchslabor eine historische Person Stuttgarts. „Johannes Baader war einer der wichtigsten Aktionskünstler seiner Zeit, der alle großen Dada-Vertreter inspiriert hat“, erklärt Antonia Beermann. Baader wurde 1875 in Stuttgart geboren, arbeitete als Architekt, ehe er sich in ein Gesamtkunstwerk verwandelte.

In schwarzer Unterwäsche zum Theaterstück

Die Vorbereitung auf die sehr gelungene historische Auseinandersetzung mit Baader ist geschickt inszeniert. Per Mail gehen die Anweisungen ein. Der Treffpunkt 0.13 Uhr vor der Post am Ostendplatz klingt vielversprechend. Der Satz „um deine Anonymität zu wahren, tritt bitte nur unter dem dir zugesendeten Namen auf“, geht klar. Die ergänzende Info, „trage schwarze Unterwäsche“, macht dann aber doch Angst: Ist das wirklich ein interaktiver Theaterabend oder die Einladung zu einem Swinger-Treff mit einem Rest von textilem Anstand?

0.05 Uhr am Ostendplatz. Eine Wartende wird von einer jungen Dame unter konspirativen Umständen instruiert. Es ist kalt. Zwei Chabos in Jogginghosen kommen auf die Post zu. Hoffentlich sind die beiden nicht das Theater-Rollkommando. Um Punkt 0.13 Uhr – ist das noch bohème oder schon spießig – steht das Mädchen von gerade eben wieder da, befiehlt höflich, das Mobiltelefon auszuschalten und in die Jackentasche zu stecken.

Mit verbundenen Augen zum Ort des Geschehens

Anschließend werde ich in ein parkendes Auto geführt. Aus den Boxen ertönen die Anweisungen für die Nacht. Der nächste Darsteller des Theaterkollektivs klopft an die Scheibe, verbindet mir die Augen und führt mich zum eigentlichen Ort des Geschehens. Sind wir noch im Stuttgarter Osten oder schon kurz vor Kunduz? Die panische Angst, jeden Moment gegen eine Wand zu laufen, überlagert jedes Zeit- und Raumgefühl. Nach zwei Minuten oder 20, das lässt sich später nicht mehr rekonstruieren, steht man in einem Raum und darf die Augenbinde fallen lassen. Jetzt soll man sich für ein Kostüm entscheiden. „Wie wäre es mit dem Modell Geschirrtuch?“ – „Ich hatte an etwas Unauffälligeres gedacht.“

Nächster Raum, die Schminkstation. „Entspann dich doch.“ Das ist leichter gesagt als getan, wenn kein Spiegel zur Hand ist und man gerade schwarze und grüne Striche ins Gesicht gemalt bekommt. Plötzlich steht man ohne Vorwarnung auf der Bühne oder eben mitten im Geschehen, im Café Größenwahn. Ein lang gezogener Raum, durch Trennwände verwinkelt, an dessen Ende eine Bar steht.

Es ist unklar, wer Schauspieler und wer Gast ist

Zeit zum Ankommen gibt es nicht. Ein Schauspieler drückt einem eine Karte mit einer Aufgabe in die Hand. Auf der Karte stehen die ersten Zeilen des Hits „Atemlos“ von Dada-Fürstin Helene Fischer. Man möge diese Lyrik bitte mittels eines Schreichors aufführen. Alles klar. Unterstützt von drei anderen Gästen und einem Schauspieler – wobei die Grenze, wer hier Gast und wer hier Schauspieler ist, nicht immer ganz klar wird – schreien wir „Atemlos“.

Atemlos geht es weiter. Ein schönes Mädchen in hautfarbener Leggings fordert mich zu einem Walzer auf. Wir tanzen oder tun so, als ob wir tanzen könnten. Danach die Erkenntnis, dass sie nicht so tut, als wäre sie unten herum nackt, sondern wirklich halbnackt ist.

Stuttgart ist doch mehr bohème als gedacht

Die Auseinandersetzung mit einer der schillerndsten Figuren, die Stuttgart je hervorgebracht hat, geht weiter. 1906 plante Johannes Baader den Bau eines Welttempels als Heimstätte für den „Internationalen interreligiösen Menschenbund“. Daneben gab er sich gerne als der wiederauferstandene Jesus Christus aus. Wie bescheiden.

Die Versuchsanordnungen des Stückes hätten Baader wahrscheinlich gefallen. Zwischendrin gibt es immer wieder eine Zwangsraucherpause. Wow. Hat das schon immer so schlimm geschmeckt? Die ersten verschwinden heimlich, nachdem sie dem Mann mit der Totenmaske am Ausgang das Codewort zugeflüstert haben. Ich bin müde, erschöpft und würde auch gerne gehen, habe aber den Code vergessen.

Also weiter im Experiment. „Trinkt die Milchstraße“, tönt es im Chor. Leider schmeckt die Milchstraße nicht kosmisch, sondern nach einem Likör, der aus leergeschlürften Austern serviert wird. Ich muss weg, vergessenes Passwort hin oder her. Gevatter Tod ist gnädig und lässt mich auch ohne Code passieren. Am Ausgang raus aus dem Kostüm, rein in den Mantel. Endlich der Blick in den Spiegel: Die schwarzen und grünen Streifen im Gesicht sehen aus, als hätte ich bei der Gruppe Kiss hospitiert. Der Blick auf das Handy-Display zeigt: 3.48 Uhr. Draußen zwitschern die Vögel. Am Ostendplatz fällt man grell geschminkt auch nach Aschermittwoch nicht negativ auf. Stuttgart ist doch mehr bohème, als man immer denkt.