Es ist mehr als nur schrilles Theater im öffentlichen Raum. Lokstoff überschreitet Grenzen und bricht so in die Herzen der Menschen ein. Sogar in das von Kultusministerin Eisenmann.

Stuttgart - Wie fühlt es sich an, mitten auf der Tübinger Straße vor einem Möbelladen ein Riesentheater zu machen? Schauspielerin Kathrin Hildebrand überlegt lange. Viel zu lange. Denn wer sie kennt, hätte erwartet, dass sie schnell und unkonventionell antwortet. Etwa so: Wie Liebe im Flugzeug. Oder Bungee-Jumping vom Fernsehturm. Aber nichts dergleichen. Stattdessen zäumt sie das Pferd von hinten auf: „Ein Dauerengagement am Wiener Burgtheater wär nichts für mich. Da hätte ich das Gefühl, das Leben zieht an mir vorbei.“

 

Mit diesem Gefühl, das sie mit Regisseur und Mime Wilhelm Schneck teilt, haben sie die Bühnenbretter gegen den harten Asphalt eingetauscht. Beide Künstler haben vor 15 Jahren das Ensemble Lokstoff gegründet – das Theater im öffentlichen Raum.

„Es überkamen mich immer häufiger klaustrophobische Anfälle. Alle Stücke spielten in ein und demselben Bühnenraum“, erinnert sich Schneck, „hinzu kam nach so vielen Jahren ein gehöriger Lagerkoller. Ich wollte weg aus dem Theater, nicht aber weg vom Theater.“

Freiheit statt Sicherheit

Der riskante Schritt in die Freiheit habe sich gelohnt. Womöglich nicht finanziell – das Überleben in der freien Theaterszene ist so hart wie Zitronenzüchten in Grönland – aber künstlerisch. Tausende Stuttgarter konnten sich bisher von der unkonventionellen Art der Lokstoffler überzeugen. Zuletzt auch die Kultusministerin. Nach dem Besuch der Jubiläumsaufführung im Heslacher Bad, wo das Stück „Retrotopia“ spielt, war Susanne Eisenmann hin und weg: „Lokstoff gelingt es nunmehr seit 15 Jahren, dem öffentlichen Raum Atmosphäre und Lebendigkeit zu entlocken.“ Dann schiebt die frühere Stuttgarter Kultur- und Schulbürgermeisterin hinterher: „Natürlich durch theatralische Bespielung auf höchstem Niveau.“

Diesen Ritterschlag nimmt Wilhelm Schneck gerne an. Aber er versucht sich dennoch in Demut zu üben: „Theater im öffentlichen Raum musste ja nicht neu erfunden werden, viele Große haben sich ja schon daran versucht“, aber selbst Große sind schon daran gescheitert. Denn keiner weiß, was dir auf der Stadtbühne alles passieren kann. „In einer fahrenden Stadtbahn, mit echten Menschen an Haltestellen und 30 Grad im Schatten zu proben, ist nun mal etwas ganz anderes.“ So geschehen bei der ersten Produktion „Furcht und Hoffnung in Deutschland“ von Franz Xaver Kroetz oder der „Linie Dix“. Ganz gleich, wie man es nennen will: Ob ehrliches oder grenzenloses Theater, es geht den Zuschauern unmittelbar unter die Haut und ins Herz. „Es macht als Zuschauer doch etwas mit mir, wenn ich mich mit anderen in die alten Bunkeranlagen begebe und dort einer Geschichte beiwohne, oder mich, wie jetzt im Heslacher Bad, erst einmal ausziehen muss“, sagt die künstlerische Leiterin Alexa Steinbrenner, „es ist ein anderer Vorgang, als sich auf seinem Theatersessel in der Dunkelheit des Zuschauerraums eine Vorführung anzuschauen.“

Gesellschafts-politischer Auftrag

Es erfüllt das Ensemble mit großem Stolz, auf diese Weise so viele und unterschiedliche Menschen in den vergangenen 15 Jahren für die Theaterarbeit begeistert zu haben. Menschen, die bisher selten oder gar nicht ins Theater gingen, Menschen, die etwas völlig Neues an Kultur wagen, Zuschauer, die bühnenmüde geworden sind und vor allem junge Zuschauer, die „wir durch unsere Arbeit erreichen und somit ein Stück Zukunftsarbeit für das Theater leisten“, so Schneck.

Nicht nur das: Natürlich wollen diese Theaterleute auch die Gesellschaft anstoßen. „Theater im öffentlichen Raum ist für mich eine Möglichkeit, diese Schwierigkeiten unserer Gesellschaft direkt an den Orten des Geschehens zu verdeutlichen“, sagt Alexa Steinbrenner. Sie meint eine auseinanderdriftende Gesellschaft der Angst, in der die Verständigungsschwierigkeiten täglich größer würden. Auch, weil ein fundierter und auf gegenseitigem Respekt und Verständnis basierender Dialog immer seltener und Lagerdenken wieder opportun würden.

Lokstoff verarbeitet diese Themen in Stücken wie dem Flüchtlingsdrama „Pass-Worte“ in einem Schiffscontainer oder in „Revolutionskinder“, die in der Stadtbibliothek spielen. „Dabei wollen wir keine Weltverbesserer sein“, versichert Kathrin Hildebrand, „es geht um das Erspüren, vielleicht können wir so auch den Zuschauern Perspektiven aufzeigen.“ Und wie sich das anfühlt, wenn sie durch ihr Schauspiel Menschen tief berührt, kann sie sofort beantworten: „Es ist Glück.“ Glück, das auf der Straße liegt.