Die Schauspielerin Petra Weimer verwandelt private Wohnungen in öffentliche Bühnen, zum Beispiel das Domizil des Architekten Danner.

Stuttgart - Während der Vorstellung sind Fotoaufnahmen untersagt. Selbst Notizen sind tabu. Es würde die Illusion gefährden. Der Regen, der einem vom Himmel über der Immenhofer Straße im Stuttgarter Süden entgegenfällt, ist zwar nicht stark, dennoch unangenehm. Man möchte ihm entkommen. "Schlüter" steht an der Klingel am Hauseingang. Wenn sich einem die Tür geöffnet hat, wenn man die vielen Treppen bis unters Dach hinaufgestiegen ist, wenn man in den faszinierenden Mikrokosmos der Hanna Schlüter eingetreten ist, dann hat man es geschafft. Man ist in der Illusion angekommen. Für einen Abend.

Die Gastgeberin wartet an der Tür. Sie ist Teil der Illusion. Hanna Schlüter heißt eigentlich Petra Weimer, ist Schauspielerin und schmückt sich mit fremden Federn. Die schicke Wohnung, in der sie steht, gehört nicht ihr, auch wenn sie sich das wünschen würde, sondern dem Architekten Florian Danner. Er hat sie für drei Abende im Januar dem Theater Rampe überlassen - als außergewöhnliche Bühne für das Einfraustück "Welche Droge passt zu mir?".

Zwischen Weltraum und Yachthafen


Theater im privaten Wohnraum heißt das Experiment, durch das die Kreativen der Rampe alle paar Monate aus ihrem angestammten Domizil im Zahnradbahnhof am Stuttgarter Marienplatz ausbrechen. Sie spielen in Villen, Lofts oder stilvollen Mansardenwohnungen von Freunden, Bekannten oder Förderern des Theaters. Eines haben alle Schauplätze gemeinsam: dem Durchschnittsbürger bleibt der Zugang zu ihnen in der Regel verwehrt.

Auf Florian Danners Wohnung ist Petra Weimer persönlich aufmerksam geworden. Beim Tag der Architektur wohnte sie einer Besichtigung bei und war sofort verzaubert. "Völlig abgefahren", nennt sie das Dachgeschoss, das sich radikal abhebt vom Rest des Gebäudes. "Wie ein Baumhaus", sagt Weimer. Ein Architekturmagazin, das sich mit Danners kleiner Welt beschäftigt hat, wähnte sich in einer Atmosphäre "zwischen Weltraum und Yachthafen".

Sein "Baumhaus" polarisiert


Danner selbst spricht von einem Glücksfall. Marcus Steiner, ein Makler, mit dem er in Mainz studiert und den er in Stuttgart zufällig wiedergetroffen hat, hat ihn auf das Objekt aufmerksam gemacht. Die Eigentümergemeinschaft suchte jemanden, der das ausgebrannte Dach saniert; Danner nahm den Auftrag unter der Bedingung an, freie Hand zu bekommen und einziehen zu dürfen. Mit seinem Windhund Phoebe lebt er seit etwa 15 Monaten in einem Reich, in dem die Farbe Weiß dominiert und durch das viel Tageslicht strahlt. Eine waghalsig freischwebende Treppe führt ins Schlafgemach. Dort fühlt sich Danner wie abgehoben von der Stadt, der er doch so nah ist. Blickt er nach Süden, sieht er die Neue Weinsteige, im Norden liegt der Talkessel. "Hier zu leben macht richtig Spaß", sagt er.

Der Architekt erregt mit seinem Domizil nicht zum ersten Mal Aufmerksamkeit. Jüngst stürzte für den ARD-"Tatort" ein Stuntman von seinem Balkongeländer in die Tiefe. Häufig stehen Fußgänger gegenüber in der Alexanderstraße, diskutieren und starren nach oben. Sein "Baumhaus" polarisiert, es begeistert und befremdet, in jedem Fall überrascht es. Für Danner ist dies das größte vorstellbare Kompliment.

Das Publikum sitzt in einem Mitmachstück


Als Petra Weimer ihn fragte, ob sie in sein Reich eindringen dürfe, war er sofort bereit dazu. "Das ist nicht selbstverständlich", sagt die Theatermacherin. "Viele wollen ihre Privatsphäre nicht preisgeben, schon gar nicht für ein Stück mit diesem Inhalt." Florian Danner nahm es mit Humor: "Ich lebe doch in der perfekten Kokserbude."

In der Dunkelheit dieses Januarabends entfaltet seine Wohnung nicht ganz den Charme wie bei Tageslicht. Die 20 Besucher staunen und stutzen trotzdem. "Schau dir die Megafensterfront an", sagt einer. "Mir wirkt hier trotzdem alles zu kalt", antwortet seine Begleiterin. Gerätselt wird darüber, welche Einrichtungsgegenstände hier tatsächlich hingehören und welche hergeschaffte Requisiten sind: Der knapp einen halben Meter große aus Holz geschnitzte Bischof stammt beispielsweise von Danners Großmutter, das Buch von Seneca daneben nicht.

Seneca, der römische Philosoph, nimmt in "Welche Droge passt zu mir?" eine zentrale Rolle ein. Immer wieder erhebt sich Hanna Schlüter, Sinn suchende Hausfrau und Mutter, von ihrem mit weißem Pelz gesäumten Sessel. Immer wieder zitiert sie Sätze wie "Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer" aus Senecas Handbuch des glücklichen Lebens. Dem Publikum wird früh klar: es sitzt in einem Mitmachstück. "Warum sind Sie hier?", fragt Schlüter und gibt die Antwort selbst: "Weil Sie Antworten suchen." Und prompt sind alle aufgefordert, die Augen zu schließen und in die Meditation zu versinken, um nach der dazugehörigen Frage zu forschen.

Auf dem Flachbildfernseher laufen Lehrfilmausschnitte


Dann kommt die vermeintlich brave Dame auf bewusstseinserweiternde Mittel zu sprechen, schwärmt von deren betörender Wirkung und verteilt Handzettel mit Tipps für den Drogenkauf: "Gutes Haschisch erkennt der erfahrene Konsument am Geruch." Die Umgebung erleichtert es dem Zuschauer zu vergessen, dass er hier eigentlich ebenfalls konsumiert. Aber er partizipiert auch, wird Teil der Szene. Auf dem Flachbildfernseher (eine Requisite) laufen Lehrfilmausschnitte.

"Welche Droge macht zärtlich?", fragt Schlüter in die Runde. Keine Antwort. Sie wartet ab. Schaut in ein paar Gesichter. Der Zuschauer auf dem Barhocker spricht selbstsicher. Er vermutet nicht, er weiß es. "MDMA", sagt er, Ecstacy also. Schlüter lächelt. "Richtig!", sagt sie und fährt fort. "Welche Droge macht mutig?" Wieder mustert sie den Mann. Erwartungsfroh. Ihr Gegenüber senkt den Blick nach links, spricht diesmal leise, als wäre es ihm peinlich, die Antwort erneut zu kennen: Sie lautet Kokain.

Eine halbe Minute lang herrscht Schweigen


Was nur wenige in der Runde wissen: dieser Mann ist ein Geschäftspartner von Danner. Ein Bauherr, der den Architekten beauftragt hat, ein Rehabilitationszentrum der Drogenhilfe zu planen. "Hoffentlich findet er meine Einladung nicht geschmacklos", hat Florian Danner vor der Aufführung noch geflüstert. Seine Sorge ist unbegründet. Dem Bauherrn gefällt das Stück, seine Frau ist davon fasziniert. Die Psychotherapeutin, die jahrelang mit abhängigen Frauen gearbeitet hat, wird später sagen, sie habe sich während der Aufführung gefühlt, als säße sie vor einer Patientin.

Denn natürlich lässt die stimulierende Wirkung der vielen Drogen, die Hanna Schlüter ausprobiert, bald nach. Ihre Stimmungsschwankungen werden drastischer, die Momente der Apathie häufiger. Eine halbe Minute lang herrscht völliges Schweigen, Schlüter hat das Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Gäste werden Zeugen, wie eine Illusion in sich zusammenfällt. Sie muss erkennen, dass - so formuliert es Petra Weimer - "die heile perfekte Welt, nach der sie sich sehnt, nicht existiert".

Das Stück zieht anderes Klientel an


Die Schauspielerin liebt ihre Rolle. Sie liebt es, mit dem Publikum zu spielen, "es auf falsche Fährten zu führen". Und sie liebt es, sich jedes Mal auf ein neues Umfeld einzustellen, sich von der Umgebung inspirieren zu lassen. "Ich lebe mich sofort ein, bin sofort zu Hause", sagt sie über ihre wechselnden Bühnen. Und wenn sich die fiktive Nachbarin nicht über den ungepflegten Garten von Hanna Schlüter beschweren kann, weil es in Florian Danners Immobilie keinen Garten gibt, hat die Hausherrin eben das Treppenhaus bei der Kehrwoche sträflich vernachlässigt.

Es seien nicht die typischen Theatergänger, die sich "Welche Droge passt zu mir?", anschauen würden, sagt Petra Weimer. Eher die Neugierigen, die sich vom Eventcharakter angezogen fühlen. Für das Theater Rampe ist es eine Chance, eine andere Klientel für sich zu gewinnen. Und für die Besucher eine Gelegenheit, sich einer Illusion hinzugeben, sofern sie das denn zulassen möchten.

Einmal, erinnert sich Petra Weimer, habe sie eine Schauspielerkollegin in einer Vorstellung zu Gast gehabt, der permanent der Neid ins Gesicht geschrieben stand - wegen der zauberhaften Wohnung. Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, sei ihr in diesem Moment nicht gelungen. Hinterher habe die Kollegin darüber gelacht. Ähnlich wie Florian Danner, der inkognito inmitten vieler Fremder saß und staunte, was um ihn herum geschah. Zu Gast in der eigenen Wohnung zu sein - "das ist unheimlich spannend", sagte er.

Aufführungen Vom 2. bis 4. März sind die nächsten Vorstellungen von "Welche Droge passt zu mir?" in einem bislang unbekannten privaten Wohnraum. Karten gibt es unter

Telefon 6200909-16, weitere Informationen im Internet unter www.theaterrampe.de ».