Der niederländische Regisseur Johan Simons, der am 1. September 70 wird, ist für sein präzises Ausloten politischer und psychischer Katastrophen zu loben und dafür, dass er der Welt einen Tag nach seinem Geburtstag eine neue Inszenierung mit Sandra Hüller schenkt.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Als kürzlich die dramatischen Siegerurkunden von der Fachzeitschrift „Theater heute“ verteilt wurden, gab es keine für die Münchner Kammerspiele. Und das, obwohl es für den neuen Intendanten Matthias Lilienthal so viele Vorschusslorbeeren gegeben und obwohl ihm sein Vorgänger Johan Simons ein gut bestelltes Haus mit hervorragenden Schauspielern hinterlassen hatte. 2013 waren die Kammerspiele Theater des Jahres, fast jedes Jahr wurden Inszenierungen zum Renommier-Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Das Ensemble zählte zu den besten der Republik, vielleicht war es sogar das beste. Schon Simons’ Vorgänger Frank Baumbauer hatte ein fabelhaftes Ensemble geformt; Simons erweiterte es um Darsteller aus Belgien und den Niederlanden, mit denen er an dem von ihm geleiteten Nationaltheater Gent gearbeitet hatte – Benny Claessens oder Elsie de Brauw, die außerdem Simons’ Ehefrau ist.

 

Johan Simons arbeitet weiter mit Sandra Hüller

Akteure wie André Jung, Benny Claessens oder Sandra Hüller haben München 2015 lieber Adieu gesagt, als auch Johan Simons, der von 2010 bis 2015 die Kammerspiele geleitet hatte, seine Intendanz nicht mehr verlängern wollte. Simons arbeitet mit einigen dieser Schauspieler weiter – wie bei der Ruhrtriennale 2015 bei dem Pasolini-Abend „Accattone“. Und als wäre es ein Geburtstagsgeschenk, das er sich selbst und der Welt macht, wird er am 2. September – einen Tag nach seinem 70. Geburtstag –, wieder eine Premiere zeigen, in der viele Münchner Ensemblemitglieder mit von der Partie sind.

Johan Simons inszeniert mit „Die Fremden“ eine Bühnenversion von Kemal Daouds Roman „Der Fall Meursault“. Wer an dem Abend in einer zum Theater umfunktionierten ehemaligen Zeche in Marl dabei sein will, muss sich einigen Sicherheitsvorkehrungen unterziehen – Daoud schrieb nicht nur eine Replik auf Camus’ Roman „Der Fremde“, er äußerte sich darin auch religions-, in dem Fall islamkritisch.

Tolle Schauspieler, politischer Anspruch

Egal wie die Premiere ausfallen wird, die Produktion zeigt, was die Arbeiten des 1946 in den Niederlanden geborenen Regisseurs grundsätzlich sehenswert macht: herausragende Schauspieler und politischer, gesellschaftlicher Anspruch. Schon in den Niederlanden mit seiner Theatergruppe ZT/Hollandia versuchte er, auch theaterferne Menschen zu gewinnen, spielte in Scheunen oder Ställen. Es kamen dann aber doch vor allem Kulturbürger aus den Großstädten. Und auch sein alle Schichten umwerbender Anspruch bei der von ihm geleiteten Ruhrtriennale wird sich wohl nicht wirklich einlösen.

Doch da greift bei Johan Simons das Samuel-Beckett-Diktum „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Und vielleicht wird es ihm ja immerhin gelingen, der einstigen Theaterstadt Bochum wieder zu Relevanz zu verhelfen, wenn er 2018 die Intendanz dort antritt.

Terror und Integration

Die große Politik – Terror, Machtwahn, das ewige Kriegen und Morden – treibt ihn um in Arbeiten wie Grabbes „Hannibal“ 2002 in Stuttgart oder 2003 in Heiner Müllers „Anatomie Titus – Fall of Rome“ an den Münchner Kammerspielen. Hellsichtig hatte er bereits 2010 zu Beginn der Intendanz in München über Joseph Roths „Hotel Savoy“ im Interview mit unserer Zeitung gesagt: „Es ist für mich wichtig, ein Europa zu zeigen, in dem Integration mehr und mehr zu einem wichtigen Thema wird.“

Er widmete sich aber auch – naheliegend bei einem Theater, das in der Luxuseinkaufsmeile Maximilianstraße residiert–, Konsum- und Kapitalismuskritik. Elfriede Jelineks „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ wurde denn auch – wie so viele andere Regiearbeiten – zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen, die Protagonistin Sandra Hüller zur Schauspielerin des Jahres gewählt. In diesem Stück und anderen Jelinek-Arbeiten arbeitete Simons mit Kammermusik, live gespielt, als emotional verstärkende, kommentierende Stimme – längst inszeniert er auch Opern, zuletzt weniger glücklich Glucks „Alceste“ bei der Ruhrtriennale.

Sandra Hüller, die zurzeit im Kino in „Toni Erdmann“ begeistert, arbeitet schon seit bald zehn Jahren mit Simons. Frank Baumbauer, Simons Vorgänger, hatte die beiden 2007 in München zusammengebracht, in Kleists „Prinz von Homburg“. Als Simons Intendant in München wurde, gelang es ihm, die im Filmgeschäft gefragte Schauspielerin zu gewinnen. Sandra Hüller über Simons: „Ich mag, dass er mit einem heterogenen Ensemble umgehen kann. Er lässt die Leute immer da, wo sie sind, er wertet das nicht.“

Denkabenteuer und Lebensmut

Dass sehr vieles im Leben denkbar (und spielbar) ist und Simons sich schlichten Antworten entzieht, macht seine Theaterabende trotz gelegentlicher Pathosanflüge zu inspirierenden Denkabenteuern. Johan Simons hat keine Angst, seelische Abgründe schmerzhaft präzise auszuloten – wie mit Sandra Hüller und Thomas Schmauser in Kippardts „März“, mit dem Sarah-Kane-Marathon „Gesäubert/Gier/Psychose 4:48“ oder, noch 2004 am Schauspiel Zürich, mit Houellebecqs „Elementarteilchen“. Überwältigend war da André Jung, mit dem Simons ebenfalls eine lange Theaterfreundschaft verbindet. Im Zentrum seiner Arbeiten, sei es Müllers „Anatomie Titus“, sei es Roths „Hiob“ (jeweils mit André Jung), stehen Figuren, denen eine gewisse Sturheit und ein Weitermachwille eigen sind – trotz aller Katastrophen. Simons: „Das ist ein wichtiges Thema: Mut. Lebensmut. Dass man, obwohl man vielleicht keine Chance hat, einfach nicht aufgibt.“ Diese Geisteshaltung, die große Menschenliebe trotz aller Skepsis, was mögliche Weltbesserungen betrifft, der Mut, auch Schmerz und das ganz große Gefühl auf die Bühne zu bringen, machen seine Kunst aus.

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