Julischka Eichel überzeugt im Schauspiel Stuttgart als Erlöserfigur in Kay Voges’ Inszenierung „Das 1. Evangelium“. Sie sagt, sie liebe das Theater – und verlässt es doch. „Man denkt über Quote, Zahlen, Geld, Prestige nach“, sagt die Schauspielerin. „Ich wünschte mir, man würde ebenso intensiv über Fragen nachdenken wie: Was ist Kreativität?“

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Julischka Eichel steht vor geschlossener Tür. Das Café im Stuttgarter Osten hat aus unerfindlichen Gründen an diesem Nachmittag geschlossen. Schade, aber was soll’s, auch in den schicken Sesseln in einem Hotel direkt gegenüber der Stuttgart21-Baustelle sitzt es sich gut. Es hat auch etwas, in der Lounge eines Luxushotels über kapitalismuskritische Theaterabende zu sprechen und über den Mann, der selbst nichts besaß noch besitzen wollte. Julischka Eichel spielt Jesus in„Das 1. Evangelium“ im Schauspielhaus Stuttgart. Aber wie. Der Hammer!, hätte man in den 80er Jahren gesagt. Wie spielt man diese Ikone des Glaubens? Ohne großes Tataaa – erst einmal. Es passiert so viel auf Kay Voges’ sich langsam, beharrlich drehender Multimediabühne, dass diese Frau mit dem langem Haar und dem fast bodenlangen weißen Leinenkleid nicht auffällt. Aber spätestens wenn es um die Bergpredigt im Matthäus-Evangelium geht, zeigt sie, dass dieser Mensch in der Kutte eine Ausnahmeerscheinung ist.

 

„Die Rolle war für mich ein Geschenk“

Von „Selig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmeln“ bis „Selig seid ihr, wenn sie schmähen euch und verfolgen und sagen alles böse gegen euch, lügend, meinetwegen“ findet eine derartige Steigerung der Intensität in Rede, Blick, Geste statt, dass man das Atmen kaum mehr wagt. Auch wenn Jesus durch den Teufel in Versuchung geführt wird und Julischka Eichel sich in Rage redet, zumal in der schwierig fremdartigen wörtlichen Übersetzung – Staunen. Solch eine Energie, Verzweiflung, Wut. Julischka Eichels Spiel erzählt davon, dass die Erlöserrolle eine schwere, undankbare, aber auch verführerische ist. Auch beim Verbeugen merkt man ihr den Kraftakt an.

„Die Rolle war für mich ein Geschenk“, sagt Julischka Eichel. Religion ist in ihrer Familie wichtig, die Großeltern sind Baptisten, die Enkelin ist es nicht: „Ich wollte keiner Gruppe angehören, habe das als eng empfunden.“ Bis heute wird viel diskutiert daheim, auch über Glaubensfragen. Sich jetzt künstlerisch damit zu befassen, habe noch einmal ein anderes Nachdenken über das Thema ermöglicht. Die Übersetzung gefalle ihr auch, weil sie offener, vieldeutiger sei – „das Reich der Himmeln“ sagt sie. Sinniert, schaut aus dem Fenster. Die Himmeln, das setze andere Gedanken frei als ein Himmel allein, der eine und einzige. „Himmel im Plural, das ist nicht so rigoros und ausschließlich gedacht.“

Freiheit und Verantwortung

Der Regisseur Voges verwendet auch kommentierende andere Texte in dem Stück. Sie selbst habe sich mit Werken des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek befasst, sagt sie, während die Kellnerin Kaffee und Kakao serviert. Die Überlegung, dass Jesus dem Menschen etwas mitgibt, das nicht mit Schuld zu tun hat, sei hoch interessant. „Dieselbe Person, gegen die wir Menschen gesündigt haben, deren Vertrauen wir betrogen haben, bezahlt den Preis für unsere Sünden und vergilt sie damit“, sagt Julischka Eichel. „Die Logik von Schuld und Sühne wird damit außer Kraft gesetzt – durch Jesus’ Annahme der äußersten Bereitschaft zur Selbstauslöschung. Das impliziert eine große Freiheit für den Menschen, das finde ich bahnbrechend. Zu verstehen, wir sind frei und wir haben somit eine Verantwortung, mit dieser Freiheit umzugehen. Wir sind für unsere Taten und Nicht-Taten verantwortlich, und zwar nur wir allein.“

Abgesehen von der Thematik, sagt Julischka Eichel, habe sie hier zum ersten Mal bemerkt, welche Verantwortung man als Hauptdarstellerin hat, „wie man so einen Abend zusammenhalten, beeinflussen kann und muss.“ Klar habe sie große Rollen gespielt, „aber die Freundin oder die Tochter des Titelhelden zu sein, ist doch etwas anderes: Man reagiert, und so kann man endlich einmal etwas bestimmen.“

Wunsch nach mehr Mitbestimmung

Klar, im Ensemble unterhalte man sich auch darüber, wer welche Rollen bekommt, wie man mit Männern arbeitet, wie mit Frauen, und welche Rolle das Geschlechterverhältnis spielt. „Man verlangt von uns Schauspielern Hingabe, Qualität bis in Erschöpfungszustände hinein – aber wenn es um die Gage geht, um Mitbestimmung oder wenn man etwas nicht begeistert mitmachen will oder eine deutliche Meinung zum Erhalt von Qualität äußert, ist man weniger gefragt“, sagt Julischka Eichel.

Fragen, die explizit auch im jüngsten Werk von René Pollesch, gestellt werden. Pollesch? Julischka Eichel, ein Leuchten im Gesicht, zeigt sich beeindruckt: „Ein großartiger Künstler.“ Er bedenke Themen anders, eröffne neue Perspektiven und integriere auch Gedanken der Schauspieler in seinen Text. Keiner müsse etwas sagen, das er nicht sagen will. Das jüngste Werk „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft“ handelt von Liebe, vom Zwang zu glauben, man müsse ständig alles gut finden oder Neues produzieren. „Immer nur anderes und zwar dauernd. Damit alles so bleibt, wie es ist“, sagt Julischka Eichel in der Inszenierung. „Weiter heißt für einige, dass es nur immer wieder anders sein muss. Aber das ist nicht weiter.“ Der Kapitalismus verspreche Fortschritt, befeuere aber letztlich nur Konsum.

Julischka Eichel verlässt das Theater

Im Leben muss es aber manchmal anders werden, auch wenn vielleicht nicht wirklich alles neu ist. Julischka Eichel wird nicht in Stuttgart bleiben und mehr fest in einem Ensemble arbeiten. Ihre erste Station nach der Schauspielschule war das Maxim Gorki Theater in Berlin, das damals von Armin Petras geleitet wurde, danach hatte sie schon einmal einige Zeit frei gearbeitet, band sich dann aber wieder fest an ein Haus – als Ensemblemitglied von Armin Petras in Stuttgart, ganz in der Nähe ihrer Geburtsstadt Tübingen. Neben den Pollesch-Inszenierungen beeindruckte sie hier in Arbeiten des Intendanten Armin Petras: als wilde, ungebärdige, kein bisschen niedliche Tochter von Prospero in Shakespeares „Sturm“ und als durchgeknallte Offizierin der Nationalen Volksarmee der DDR in Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager“. Julischka Eichel lächelt. „Ich liebe das Theater sehr. Grundsätzlich aber besteht an den Bühnen viel Druck – man denkt über Quote, Zahlen, Geld, Prestige nach. Ich wünschte mir, man würde ebenso intensiv über Fragen nachdenken wie: Was ist Kreativität? Ist da die Lust, die Zeit, Meinungen und Andersartigkeit anderer auszuhalten? Ich möchte jetzt einfach etwas anderes probieren, auch mehr Filme drehen können.“ Zwar gebe es Gespräche mit Theatern, aber erst einmal „gehe ich frei“, wie Julischka Eichel sagt.

Man wünscht sich, dass diese so präzise, enthusiastisch spielende und mit Sprache fein umgehende Schauspielerin doch schneller ein Haus findet, das zu ihr passt, als sie es sich womöglich vorstellt. Theaterzuschauer dürfen so egoistisch sein, gute Schauspieler nicht nur in Netflix-Serien, im Fernsehen und im Kino erleben zu wollen. Vor der großen Freiheit steht aber noch eine Premiere. Eine Art Reprise von „Das 1. Evangelium“. Dort sah man auch eine Szene mit Johannes dem Täufer und Salome. „Salome“ ist an Christi Himmelfahrt erstmals im Schauspielhaus zu sehen. Es inszeniert Sebastian Baumgarten, und in der Titelrolle zu sehen ist: Julischka Eichel.

Info

Im Schauspielhaus Stuttgart sieht man Julischka Eichel in Kay Voges’ „Das 1. Evangelium“: 6. Mai, 10. Juni, 5. Juli. Und in René Polleschs „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft“: 12. Mai, 2. Juni, 4. Juli. „Salome“ nach Oscar Wilde / Einar Schleef feiert am 10. Mai um 19.30 Uhr Premiere im Schauspielhaus. Julischka Eichel spielt in Sebastian Baumgartens Inszenierung die Titelrolle. Es gibt noch Restkarten: 07 11 / 20 20 90.