Das Ensemble Lokstoff macht mit einer Form von „Theater to go“ Schule und leistet einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur.
Stuttgart - Der weise Heraklit hat schon vor 2500 Jahren gewusst: Lernen bedeutet nicht, Fässer zu füllen, sondern Fackeln zu entzünden. Lehrer, die sich dieser Weisheit bedienen, sind zwar selten, aber umso wirkungsmächtiger. Die Frage ist nur, wie entzündet ein guter Pädagoge im digitalen Zeitalter die Fackeln bei jungen Menschen? Wie beeindruckt und bewegt man sie? Nicole Baisch, Lehrerin aus Kirchheim/Teck, ist es zusammen mit dem Theater-Ensemble Lokstoff und dem Geschichtsvermittler vom „Hotel Silber“, Immanuel Baumann, gelungen.
Eine Erinnerung für die Zukunft
Wie? Indem sie Geschichte durch Geschichten erzählen und sie dadurch lebendig und greifbar machen. Es ist der Weg vom Abstrakten zum Konkreten. Über das Schicksal einer jüdischen Familie wird die Dimension des Schreckens von 6,7 Millionen getöteten Juden auch für Jugendliche mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust zu einer unvergesslichen Erfahrung.
Lokstoff hat das Exempel durch das Stück „Familienabend“ bisher nur mit Erwachsenen geprobt. Darin verleiht die Schauspielerin Kathrin Hildebrand der jüdischen Familie Kahn Gesicht und Stimme. Sie wandert im Wohnzimmer der Kahns in der Sitzenburgstraße 17 durch das Leben der Stuttgarter. Von den ersten, den glücklichen Tagen bis zur Deportation und der Auslöschung fast aller. Nur Hannelore Marx bleibt am Leben und berichtet von Leid, Schmerz und der Scham als einzige überlebt zu haben. Im kleinen Wohnzimmer der Kahns weckt das Stück „Familienabends – Eine Erinnerung für die Zukunft“ tiefe Emotionen bei dem handverlesenen Publikum. Und schon vor Monaten bei der Premiere wünschte sich der Regisseur Wilhelm Schneck, das Stück möge Schule machen. Schneck und Hildebrand träumten davon, den „Familienabend“ an Originalschauplätzen für Schulklassen aufzuführen.
Vergangene Woche erfüllte sich dieser Traum. Sie schufen an alten Plätzen neue Erinnerungsräume, schmiedeten mit den Gymnasiasten der zehnten Klasse eine „neue Erfahrungsgemeinschaft, die eine Grundlage für die Zukunft bilden“ (Schneck). Tatsächlich erlebten die Mimen und Pädagogen eine wundersame Metamorphose bei den Jugendlichen. Etwa bei Maurizio (16). Vor dem Start zum Erinnerungs-Theater im öffentlichen Raum sagte er in eine Kamera des TV-Senders „Regio TV“ auf die Frage, was er erwarte: „Dass es Spaß machen wird.“ Am Ende des „Theater to go“, dem Weg durch die Stadt bis ins ehemalige Gestapo-Hauptquartier „Hotel Silber“ saß der Bursche stumm und betroffen da. Zuvor hörte er von Kathrin Hildebrand alias Hannelore Marx vor der Jakobschule stehend, dass diese Schule „judenfrei“ sein musste. Dass das kleine Mädchen weinend und ausgesperrt vor dieser Schule kauerte, vor der Maurizio nun in die Geschichte des jüdischen Mädchens eintauchte. Später, im Museum, lernte er noch eine Menge mehr über die Grausamkeit der Nazis. Nun war es kein Spaß mehr, als die 25 Schüler die alten Schwarz-Weiß-Fotos der Kahns in Händen hielten. Am Ende der Vorstellung, der wundervollen Schulstunde im Fach Geschichte, herrscht Totenstille im Raum. „Für mich war es sehr schön zu erleben, dass der „Familienabend“, den wir sonst in den Wohnungen erlebbar machen, auch mit der kleinen Reise durch Stuttgart und dem Familientisch im Hotel Silber berührt“, sagt Hildebrand. „Die Schüler waren hoch konzentriert und ganz bei der Sache. Ich habe in viele junge Augen geschaut, die an dem Schicksal der Familie Kahn Anteil genommen haben.“
Aktuelle Brisanz
Auch die nachfolgende Führung durch die Ausstellung im „Hotel Silber“ sei für sie und das Ensemble „sehr beeindruckend“ gewesen: „In den aktuell schwierigen politischen Zeiten ist es uns wichtig, dass unsere Geschichte immer in Erinnerung bleibt.“ Hildebrand bezieht sich dabei auch auf die rechts-nationalen Tendenzen, die in Europa die Demokratie bedrohen. Aber sie hat auch den aufflackernden Antisemitismus im Blick. Erst kürzlich mahnte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, dass man nicht überall in Deutschland die jüdische Kopfbedeckung gefahrlos tragen könne. Seine Warnung sei als Weckruf zu verstehen. Und das ist ganz im Sinne dieses Projektes von Lokstoff. Gerne zitiert Kathrin Hildebrand daher den spanischen Philosophen George Santayana: „Wer seine Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen.“