„Wie stark ist der Rechtsstaat (noch)?“ – diese Frage haben die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa diskutiert.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Das versöhnliche Resümee kommt von einem, der mit seinen Thesen zur Lage der Justiz in Deutschland provoziert. „Wir haben einen ordentlichen Rechtsstaat“, sagt Jens Gnisa, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes und Direktor des Amtsgerichts Bielefeld, schließlich. Mit seinem Buch „Das Ende der Gerechtigkeit“ hat Gnisa, so betont er, als Privatperson und nicht als Funktionär einen Warnruf abgesetzt, um auf das Schwinden des Vertrauens in den Rechtsstaat aufmerksam zu machen.

 

Bei der gemeinsamen Veranstaltung des Stuttgarter Theaters, der Robert-Bosch-Stiftung und der Stuttgarter Zeitung im Rahmen der Reihe „Theater X Wirklichkeit“ diskutierte Gnisa am Sonntag mit der ehemaligen Bundesjustizministerin und FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Frage „Wie stark ist der Rechtsstaat (noch)?“. Auch Leutheusser-Schnarrenberger beantwortet die Schlussfrage aus dem Publikum, ob Politiker noch gute Gesetze machen können, mit einem klaren „Ja“. Sie schickt zudem ein „wenn man will auch auf europäischer und internationaler Ebene“ hinterher. Die Möglichkeiten des Netzdurchsetzungsgesetzes, so hatte sie zuvor schon ausgeführt, finde sie besser als die Situation in den sozialen Netzwerken vor der Jahreswende. Noch nicht zufrieden ist die Juristin jedoch damit, dass die Entscheidung über die Meinungsfreiheit in Deutschland bei internationalen Konzernen liege und es keine Berufungsinstanz gegen deren Löschungen gebe. „Das ist ein Zustand, der so nicht bleiben sollte.“

Das Recht muss einer komplexer werdenden Welt folgen

Die Welt werde komplizierter, das Recht müsse der Entwicklung folgen, ergänzte Gnisa. Die Spaltung Europas bleibe nicht ohne Folgen. Je einiger sich die Mitgliedsländer seien, desto besser stehe es um die internationale Rechtsdurchsetzung.

Zwischen Einbruchdiebstählen und Google, zwischen nationaler Gesetzgebung und multinational agierenden Konzernen bewegten sich die Fragen von Rainer Pörtner, dem Leiter des Politikressorts der Stuttgarter Zeitung, und dem StZ-Autor Armin Käfer. 62 Prozent der Deutschen glauben, nicht alle Menschen seien vor dem Recht gleich. Für das gesellschaftliche Klima ist dabei nicht von Bedeutung, ob das so ist oder ob das nur die gefühlte Wirklichkeit ist. Wo also knirscht es?

Für Gnisa beginnt die Misere bei fehlenden Stellen in den Justizbehörden, die sich darin niederschlage, dass heute über ein Drittel der staatsanwaltlichen Ermittlungen eingestellt würden. So entstehe der Eindruck, der Staat ziehe „sich aus dem Bereich der Kleinkriminalität zurück.“ Eine Besucherin aus dem Publikum, die in der Notfallmedizin arbeitet und von einem tätlichen Übergriff dort berichtete, bestätigte später Gnisas Wahrnehmung, dass viele Straftaten aus einer resignativen Haltung nicht mehr angezeigt würden. Die von den angehenden Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD ausgehandelten 6000 zusätzlichen Stellen zur Entlastung der Justiz sind für ihn „ein großer Schritt“.

Muss sich das Recht selbst tragen?

Dass der Rechtsstaat mehr sei als nur eine funktionierende Rechtsprechung, betonte Leutheusser-Schnarrenberger. „Wir brauchen einen Pakt für den Rechtsstaat“ forderte sie. Das gehe über die Personalfrage hinaus. Auch eine immer mehr auf Effizienz getrimmte Justiz gefällt ihr überhaupt nicht. Von der These, dass die Justiz sich finanziell selbst tragen müsse, hält sie nicht viel. „Wenn irgendetwas eine Kernfrage des Staates ist, dann ist das die Justiz“, so ihre Überzeugung. Da müsse man als Politik auch mal den Mut haben, Entscheidungen zu korrigieren, wenn das Misstrauen der Preis beschleunigter Verfahren sei.

Welches rechtsstaatliche Vorbild gebe der Staat, so fragte Rainer Pörtner schließlich, wenn er selbst die Maastrichtkriterien nicht erfülle, seine Grenzen öffne oder die Erfüllung von Luftreinhaltungsplänen nicht durchsetze. Für Gnisa war die deutsche Entscheidung zur Grenzöffnung im September 2015 „ein schlechtes Vorbild aus der Politik. Die Bundesregierung hat nicht erklärt, auf welcher Rechtsgrundlage sie gehandelt hat.“ Viele hätten das als Kontrollverlust empfunden. Leutheusser-Schnarrenberger bemängelte, dass die Folgen der Entscheidung – von den Verfahren beim Bundesamt bis zu Verwaltungsgerichtentscheidungen – „in dieser menschlich sehr schwierigen Situation“ nicht bedacht worden seien. Die Frage, wie man die Politik zur Erfüllung der Luftreinhaltepläne bringe, blieb jedoch unbeantwortet.