In Stuttgart begann seine Karriere, nun ist er wieder hier: Deutschlands erfolgreichster Dramatiker Roland Schimmelpfennig inszeniert sein Stück „100 Songs". Er sagt, warum das kein Liederabend ist und wie schwer es ist, über terroristische Anschläge zu schreiben.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - In der Kunst geht es um Leben und Tod, hat der US-amerikanische Konzeptkünstler Bruce Nauman gesagt. Das klingt pathetisch, stimmt aber manchmal. Und definitiv im Fall von Roland Schimmelpfennigs Drama „100 Songs“, das an diesem Freitag im Kammertheater deutsche Erstaufführung feiert.

 

Obwohl der Titel es nahelegt, ist es kein Liederabend. „Ein bunter schon gar nicht“, wie der 51-jährige Autor und Regisseur während einer Probenpause am Nachmittag im Café neben dem Theater sagt: „Hannes Gwisdek aka Shaban komponiert und steuert Klänge bei. Die Lieder werden auch eher wie aus der Erinnerung angespielt, angesummt, als würde man sich überlegen, wie ein Lied klang, das man in einem bestimmten Moment gehört hat.“

Jesus Christus kommt auch im Stück vor

„100 Songs“ ist ein Stück über Terror, die Willkür des Zufalls, über Schicksal und Liebe. Jesus Christus kommt auch darin vor, außerdem ein fliegendes Pferd und eine Kellnerin namens Sally. „Seit dem Attentat von Madrid“, sagt Schimmelpfennig, „wollte ich ein Stück über das Thema Terror schreiben, doch wie fasst man das? Es sollte kein journalistisches, dokumentarisches Stück sein.“ Er hat einer namenlosen, klugen Frau im Stück den Grund dafür in den Mund gelegt: „zu kompliziert“.

Schimmelpfennig: „Mir war es wichtig, über die Opfer zu schreiben, über die Zufälligkeit des Opferwerdens.“ Er vermeidet eine konkrete Ortsnennung, schreibt über eine kleine Zeitspanne kurz vor einem nicht weiter konkretisierten Attentat, zeigt Menschen auf dem Weg zu einer Bahnstation, berührt wie beiläufig auch aktuelle gesellschaftliche Themen. Die Katastrophe? Tritt ein – oder auch nicht.

Lieder, die man wieder loswerden will

„Ich wählte eine skizzierte Figurenzeichnung, Songs sind so etwas wie kleine Seelen, konserviert in einer Zeitspanne von ein paar Minuten“, sagt Roland Schimmelpfennig Als er das Stück für das schwedische Theater in Örebro schrieb, habe er alle Mitarbeiter des Hauses nach fünf Lieblingssongs befragt, außerdem zwei Jahre lang in einem Notizbuch Liedtitel gesammelt, die vielleicht nicht unbedingt zu den schönsten gehören, aber zu den bekanntesten.

Es gibt ja auch Hits, die man wieder loswerden will, blöde Ohrwürmer, ein Lied, das lief, als die erste Liebe mit einem Schluss machte. In „100 Songs“ kommen auch Titel vor, die zum Thema passen, Iggy Pops „The Passenger“ oder „Upside down“ von Diana Ross.

Das etwa 120 Seiten starke Werk klingt oft melancholisch, manchmal heiter verzweifelt, auch wütende Töne ob der Sinnlosigkeit sind darunter. Konsequente Offenheit prägt das Stück. Es springt immer wieder in der Zeit, was ihm Dynamik und Spannung verleiht. „Das Stück hat eine komplizierte Mechanik, ist eine vielstimmige Angelegenheit, die Stimmführung der Figuren ist wie eine musikalische Komposition“, sagt der Autor. „In der Zeit habe ich wenig anderes gelesen oder gesehen. Man lebt in so einem Stück in der Zeit, in der man es schreibt.“

Kinderstücke schreibt Roland Schimmelpfennig nun auch

Auch in nächster Zeit wird Roland Schimmelpfennig dann wohl wieder wenig Zeit für die Lektüre von Werken anderer finden: Für Kiel schreibt er die Sprechtexte für Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ neu, im Herbst inszeniert er an dem renommierten Ostberliner Kindertheater, dem Theater an der Parkaue, „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“, und am Bayrischen Staatsschauspiel in München wird „Der Riss durch die Welt“ in der Regie von Tilman Köhler uraufgeführt.

Die Sache mit dem Kindertheater ist nicht einfach ein Ausflug in eine andere Sparte. Schimmelpfennig: „Ich finde es wahnsinnig wichtig, dass Kinder früh mit dem Theater vertraut werden, im Theater entsteht eine andere Welt, eine andere Sinnlichkeit, ein anderer Humor, eine andere Sprache als im Alltag und im Fernsehen, im Kino. Dazu müssen die Texte gut und gesellschaftlich klar verankert sein, auch multi-ethnisch funktionieren, Theater ist ein potentes Werkzeug für die sinnliche, intellektuelle Bildung.“

Kontrolle im Theater? Gibt’s nicht!

Dass er nicht nur sein Kinderstück, sondern auch andere Werke häufig selbst inszeniert, habe aber nichts damit zu tun, dass er die Kontrolle über den Text behalten wolle, sagt er. „Die Kontrolle verliert man ohnehin. Bei aller Vorbereitung und auch bei dem besten Team der Welt – nichts ist planbar. Wohin die Reise geht, entscheidet sich während der Arbeit. Das ist auch das Tolle. Zwar bleibt beim Selbstinszenieren das Energiepotenzial des Stückes eher erhalten als bei einem Regisseur, der sich vielleicht für das Stück gar nicht interessiert. Doch es kann auch sein Gutes haben, wenn noch jemand anderes eine szenische Behauptung beisteuert.“

Zehn Jahre lang hatte Jürgen Gosch Schimmelpfennigs Texte uraufgeführt, „Greifswalder Straße“ etwa am Deutschen Theater Berlin. „Als er krank wurde und klar war, er würde ,Der goldene Drache‘ nicht inszenieren können“, sagt der Autor, „wurde ich gefragt, ob ich es selbst inszenieren will. Und danach spielte sich das so ein.“ Gelernt hat er es ja: beim Regiestudium in München und als er später am Theater als Dramaturg arbeitete. „Ich habe dann aber beschlossen, mich aus dem aktiven Theaterbetrieb zurückzuziehen und zu schreiben.“

Erste Erfolge in Stuttgart

Rasant in Fahrt gekommen ist seine Autorenkarriere in Stuttgart Ende der 1990er Jahre. „Ich finde es sehr schön, wieder hier zu sein“, sagt Schimmelpfennig. „,Die arabische Nacht‘ ist ein wichtiges Stück gewesen, das ich im Auftrag des damaligen Intendanten Friedrich Schirmer und des Dramaturgen Andreas Beck geschrieben hatte. Ich hatte mich da ans narrative Theater gewagt, ein Stück über so etwas Unmögliches wie ein Hochhaus zu schreiben, über die Wüste auch, traurig, bitter, surreal. Samuel Weiss’ Inszenierung war eine schöne Produktion. Die Uraufführung hat viel losgetreten, das Stück wurde weltweit nachgespielt von New York bis Moskau – bis heute.“

Schimmelpfennig hatte schon in „Die arabische Nacht“ Figuren eher skizzenhaft angelegt, surreale Momente eingebaut, wie auch jetzt wieder. Dies verlieh dem Text etwas Schwebendes. Die aktuelle Mode, bloß keine klassischen Stücke mit psychologisch stringenten Figuren, Anti-Repräsentation - alles schon da gewesen, nicht? Schimmelpfennig blinzelt in die Sonne und sagt, „jede Theatergeneration erfindet alles wieder neu, ich war damals auch nicht der erste narrative Autor.“

Wiederbegegnung mit Schauspielern aus Mannheim und Stuttgart

Das Stück erhielt eine Einladung zu den Mülheimer Theatertagen, es folgten neue Aufträge. Bis heute zählt Schimmelpfennig zu den erfolgreichsten und meistgespielten Autoren. „Das Stuttgarter Projekt ,Dichter ans Theater‘ war damals etwas ganz Neues, der gezielte Austausch mit jungen Autoren.“

Längst laden auch andere Intendanten Autoren ein, bei ihnen zu arbeiten, auch Burkhard C. Kosminski hat das in Mannheim so gehalten. In den vergangenen Jahren gab es dort einige Schimmelpfennig-Premieren, inszeniert vom Chef. Da lag es nahe, nach dem Umzug von Kosminski nach Stuttgart die Fäden aufzunehmen, neu zu knüpfen.

Dass der Autor und Regisseur im Gespräch so entspannt wirkt, mag auch daran liegen, dass er die meisten Schauspieler aus Stuttgart und von Mannheim kennt, wie er sagt. „Es herrscht ein sehr guter Ensemblegeist. Das ist wichtig, denn die Texte sind schwer in den Griff zu bekommen, sollen aber leicht wirken, das ist handwerklich schwierig.“ Was auch immer der Regisseur Schimmelpfennig aus „100 Songs“ macht, das Stück des Autors Schimmelpfennig zu kennen ist schon mal ein Kunstglück.

Info

Das Stück „100 Songs“ feiert am 21. Juni um 20 Uhr seine deutsche Erstaufführung im Stuttgarter Kammertheater. Die Premiere ist ausverkauft, es gibt eventuell Restkarten an der Abendkasse. Die nächsten Vorstellungen: 72. und 28. Juni. Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90.