Ob das Theater in brisanten Zeiten politische Stoffe auf die Bühne bringen sollte und warum „Biedermann und die Brandstifter“ hoch aktuell wirkt, sagt die 42-jährige Regisseurin Annette Pullen, die mit Studierenden der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Max Frischs Klassiker im Wilhelma-Theater inszeniert.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Die Regisseurin Annette Pullen (42) inszeniert im Wilhelma-Theater mit Schauspielstudenten der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frischs Drama „Biedermann und die Brandstifter“

 
Frau Pullen, die Brandstifter in Max Frischs früher viel gespieltem Stück wurden mal als Kommunisten, mal als Nazis identifiziert. Wer sind heute Brandstifter, wenn Sie das Stück am 7.10. im Wilhelma-Theater zeigen?
Ich möchte die Frage nicht eindeutig beantworten. Eine konkrete Zuweisung, etwa zu sagen, das sind AfD-Anhänger, fände ich platt. Es gibt in dem Stück verschiedene Positionen und Figuren, in denen man sich wiederkennen kann oder die einen abstoßen. In dem Stück geht es darum, sich angesichts gefühlter oder wirklicher politischer Bedrohtheit nicht in falscher Sicherheit zu wähnen. Deshalb passt das Stück erstaunlich gut in unsere Zeit, die auch von einem Gefühl der Angst geprägt ist und von der diffusen Sorge, wie es mit Europa, mit der Welt weitergehen wird.
Warum wehrt sich der gut situiert Bürger und Fabrikant Gottlieb Biedermann nicht gegen die Brandstifter, die am Ende ja auch sein Haus anzünden?
Das ist eine komplexe Mischung aus Verdrängung – es sei doch alles in Ordnung und werde schon nicht so schlimm kommen – und aus Angst. Deshalb versucht Biedermann irgendwann, sich die Eindringlinge zu Freunden zu machen, die seinen Dachboden mit Benzinfässern belagern. Das ist auch eine beliebte Spielart in der Politik. Ein anderer Punkt ist die Machtfrage. Man denkt als Zuschauer ja immer, Mensch Gottlieb, schmeiß’ doch die Brandstifter aus deinem Haus. Doch er überschätzt sich selbst. Er ist zwar ein Machmensch, der das Regieren, das Bossdasein gewöhnt ist und der keine Schwäche zeigen will. Aber hier wird ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
Müssen Theater in gesellschaftlich angespannten Zeiten wieder mehr politische Stoffe auf die Bühne bringen? Sehen Sie Ihre Inszenierung von „Biedermann und die Brandstifter“ denn auch als Kommentar auf aktuelle Geschehnisse?
Es ist ein wichtiger Auftrag aller Kulturinstitutionen, darauf hinzuweisen, wenn die Gesellschaft brüchiger wird. Allerdings sind wir nicht dazu da, Antworten zu liefern. Wir wollen dazu auffordern, Fragen zu stellen. Dazu gehört auch zu fragen, wie wir Europa offen gestalten können, ohne in Panik zu verfallen.
Der Text von 1958 ist allerdings nicht allzu subtil, wirkt teilweise moralinsauer. Wie bringen Sie das Stück auf die Bühne? Und darf jeder jeden spielen, wie es heute oft der Fall ist?
Wo Frisch zum Betulichen neigt, haben wir Texte gerafft. Der Chor klingt merkwürdig antikisierend, changiert wunderbar zwischen Moral und Ironie, und die Dialoge der Figuren sind sehr handfest und gut. Es finden sich viele wahre Sätze darin, auch über Angst und Sterblichkeit. Zuerst dachten wir, viel mehr mit Fremdtexten arbeiten zu müssen. Aber der Text ist bemerkenswert aktuell und irritierend angesichts unserer politischen Situation. Es ist eine Produktion mit Schauspielschülern, da soll jeder Student den Raum bekommen, sich zu präsentieren. Ich bin eine Freundin psychologischer Figurenführung, also verkörpert jeder Schauspieler auch eine eigenständige Figur.

Info: Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück ohne Lehre“ feiert Premiere am 7. 10., 20 Uhr, im Wilhelma-Theater in Bad-Cannstatt. Weitere Termine: 8., 20.-22. Oktober sowie am 6., 11., 12. November und 1.-3., 10., 11. Dezember. Karten: 07 11 / 95 48 84 95. Regisseurin Annette Pullen erarbeitet die Produktion mit den Studierenden des dritten Jahrgangs der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart.

Zur Person:

Annette Pullen, 1974 in Gelsenkirchen geboren, ging nach dem Studium der Angewandten Theater- und Literaturwissenschaften in Gießen als Regieassistentin zunächst ans Stadttheater Gießen und von 2000 bis 2003 ans Thalia Theater Hamburg, wo sie 2001 in der Gaußstraße ihr Regiedebüt gab. Seither arbeitete sie an zahlreichen deutschsprachigen Häusern. In Stuttgart inszenierte sie am Staatstheater Nis-Momme Stockmanns „Kein Schiff wird kommen“, Dea Lohers „Fremdes Haus“ und Marc Rosichs „Car Wash“. Von 2011 bis 2016 war sie Leitende Schauspielregisseurin am Theater Osnabrück. Arbeiten von ihr wurden zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater Berlin und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.