Christian Tschirner führt ein Doppelleben: Als Theaterautor heißt er Soeren Voima und bringt mit seinen Stücken das Stuttgarter Publikum immer wieder zum Lachen.

Stuttgart - Man muss sich Christian Tschirner als freundlichen Menschen vorstellen. Geduldig und klug gibt der 42-jährige Theatermann einen halben Nachmittag lang Auskunft über Leben und Werk, er staunt über seine Antworten und ist auch sonst aufrichtig verblüfft über die Stationen, die beruflich schon hinter ihm liegen. Angefangen hat er, noch in der DDR, als Tierpfleger im Leipziger Zoo, danach wurde er Schauspieler, Regisseur, Dramaturg und Dramatiker, wobei er alle vier Bühnenjobs gern auch mal in einer einzigen Inszenierung zeitgleich erledigt. Mittlerweile hat er an unzähligen Häusern gearbeitet, in Köln und Bochum, in Frankfurt, Mannheim und eben auch Stuttgart, weshalb er wohl zum unveräußerlichen Grundbestand der Theaterrepublik gezählt werden darf. Eine beachtliche Karriere, die der umgängliche Bursche ohne jegliche Eitelkeit ausbreitet – ins Zögern und Zaudern gerät er erst, wenn man das Geheimnis seines Pseudonyms lüften will. Als Autor nennt er sich nämlich nicht Christian Tschirner, sondern Soeren Voima. Warum?

 

„Och nö“, sagt er, „das ist eine völlig alberne Geschichte. Wollen Sie das wirklich wissen und aufschreiben?“ Er rutscht auf dem weißen, leicht vergilbten Sessel hin und her, der in seinem Büro in Hannover steht. Seit 2009 arbeitet Christian Tschirner dort als Dramaturg am Staatstheater – und die Ziererei bei der Frage nach seinem Pseudonym ist keineswegs gespielt. Zu pubertär kommt ihm die Sache mit Soeren Voima heute vor, zu peinlich die ganze Namensgeschichte, um wirklich noch erzählt zu werden. Aber er muss sie erzählen, kein Pardon, schließlich wird er im Stuttgarter Literaturhaus nicht als Dramaturg geehrt, sondern als Dramatiker. Als Soeren Voima eben, der unter anderem mit dem „Herrn Ritter“ im hiesigen Schauspielhaus einen Riesenerfolg feiern konnte.

„Soeren und Voima“, sagt Tschirner, „hießen zwei Knäckebrotsorten, die es damals im Urlaub zum Frühstück gab.“ Ah ja – und keine tiefere Bedeutung? „Nein“, sagt er und blickt verlegen hinter seiner Brille hervor, keine tiefere Bedeutung, nur Scherz, Satire, Ironie und Übermut, als er damals, Mitte der neunziger Jahre, mit Berliner Kommilitonen auf Finnlandreise war. Sie suchten nach einem Namen für das Kollektiv, das sie an der Ernst-Busch-Schule gegründet hatten, ein sehr hochmögendes Team, dem neben Tschirner (als Schauspieler) unter anderem noch Thomas Ostermeier, Tom Kühnel und Robert Schuster (als Regisseure) angehörten.

An klassischen Versformen geschult

„Eine präpotente, größenwahnsinnige Truppe, die das Theater neu erfinden wollte“, sagt Tschirner heute – und der Knäckebrotname, ursprünglich für diese eingeschworene, bald die Stadt- und Staatstheater erobernde Sekte gedacht, blieb im Lauf der Jahre allein an ihm hängen. Aus gutem Grund: Tschirner wurde wohl deshalb zum stolzen Alleinerben von Soeren Voima, weil er seit dieser Zeit als toller, an klassischen Versformen geschulter Sprachspieler immer wieder Stücke schreibt, in denen das Theater zwar nicht neu erfunden, aber doch mit neuer, frischer, unverbrauchter Luft versorgt wird. Mit Luft, die man in seinen Komödien, Farcen und Grotesken ja vor allem für eines braucht: fürs laute, aberwitzige Lachen über sich selbst.

So sieht das auch die Stuttgarter Jury, die ihm – fürchterlicher Name – den „Literaturpreis des Wirtschaftsclubs im Literaturhaus“ zuerkannt hat. „Voimas Talent zum Aufdecken des Komischen in unserem Tun und Sprechen sei Dank“, heißt es in der Begründung für die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung, die am kommenden Dienstag vergeben wird. Dieses urkomische Talent hat er eben vor allem im hiesigen Schauspiel bewiesen. Fünf seiner Stücke, so viel wie nirgends sonst, sind unter Hasko Weber hier herausgekommen: nach dem „Herrn Ritter“ 2006 noch die Göttersatire „Eos“, die Globalisierungsfarce „80 Tage, 80 Nächte“, die Komödienbearbeitung „Volpone“ und zuletzt im Mai das ätzende „Gestell“ – Voima/Tschirner knöpft sich darin auf gallig humorige Weise das „juste milieu“ in Stuttgart vor.

Das Stück handelt von Autos und Menschen, die in Stuttgart und der Region von Autos leben. Es handelt also von uns allen im Allgemeinen und von Anhängern der Waldorfschule im Besonderen. Und Karl, der Ökofaschist, klärt das Publikum über die Eigenheiten dieser Schulart auf:

„Weil, sehn Sie, das verhält sich so: Wäre Torben nicht auf die Schule gegangen, auf die auch sein Vater schon gegangen ist, er stünde heute nicht dort, wo er steht. Neben einem frei entfalteten Seelenleben hat er dort nämlich eine spezielle Drüse ausgebildet. Diese Drüse ist in der Lage, hauchdünne klebrige Fäden zu produzieren, die es ihm ermöglichen, unsichtbare Netzwerke zu bilden, Ich kann sie Ihnen zeigen, wenn Sie wollen. Hier, kurz überm Anus sitzt das Ding.“

Mit runtergelassener Hose auf der Bühne

Das also behauptet Karl im „Gestell“, bevor er auf offener Bühne die Hosen runterlässt und allen zeigt, wo die Netzwerk-Drüse sitzt. Und wenn man Tschirner nun in seinem sympathisch unaufgeräumten Büro bittet, sich laut lesend über die Textstelle zu beugen, dringt man schnell zum Kern seines Schreibens vor, zum ungeheuer witzigen Verhältnis zwischen Form und Inhalt. Die Passage, das hört man, beginnt und endet mit einem fünfhebigen Jambus, dazwischen findet sich Prosa – und aus solchen Kollisionen und Reibungen steigt hier und anderswo der spezielle Voima-Sound empor: rhythmisch schwingende Sätze, die im Smoking einherstolzieren, aber nie verheimlichen wollen, dass sie an den Füßen löchrige Socken tragen. Erhabenes trifft auf Banales, der hohe Ton – und wir sind beim Inhalt angelangt – auf niedrige Dinge, die gern auch unter der Gürtellinie liegen dürfen. Tschirner, der gelernte Tierpfleger, ist noch heute Hobbybiologe – daher also der von den Spinnen abgeschaute Jambus-Anus, der Sekrete absondert, wenn auch keine Waldorf-Sekrete wie die spinnenartig vernetzten Bürger von Stuttgart.

Um es literaturwissenschaftlich zu sagen: kein anderer Autor spielt derzeit so komisch virtuos mit Form und Inhalt wie der Mann mit dem Knäckebrotnamen. „Soeren Voima ist eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik“, heißt es in der Begründung für den Wirtschaftspreis. Stimmt. Er hat diesen Preis verdient – umso mehr, als er in Stuttgart weit weniger gut vernetzt ist als anderswo. Seine Kinder gehen in Hannover auf die Waldorfschule.