Zum vorerst letzten Mal bringt René Pollesch in Stuttgart mit „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?“ ein neues Stück zur Uraufführung. Eine Begegnung nach einer Probe.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Als hätte der lokale Bierbrauer sich von René Polleschs neuem Stücktitel „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmannschaft?“ inspirieren lassen, wirbt die Firma für ihr Produkt mit dem rigorosen Imperativ: „Zammahalda!“ Dazu zeigt sie auf dem Plakat ein Bild mit Fußballspielern in Umarmepose. Könnte das Stück tatsächlich etwas mit dem VfB Stuttgart zu tun haben? Sollen wir jetzt in der Kunst auch zusammenhalten? Theaterleute sind oft fußballaffin und kicken gern selbst. Zumal auf dem Besetzungsplan 22 Personen aufgelistet sind, die also für zwei Mannschaften reichen könnten? Ein klassischer Fall von Überinterpretation, denn auf diese Orakelei reagiert René Pollesch mit ratlos erstauntem Blick.

 

Es ist einer der letzten schönen Herbsttage, an denen der Autor und Regisseur sich nach einer Probe in einem Café nahe des Theaters Zeit nimmt für einen Kaffee und viele Zigaretten. „Mich interessiert Fußball überhaupt nicht“, sagt er. Wobei das vehemente Desinteresse doch etwas mit ihm zu tun haben könnte, wie er vermutet. Der Vater war Jugendtrainer. „Sie kennen ja den Satz von Oscar Wilde, der glücklichste Tag im Leben eines Vaters ist der, wenn er erkennt, der Sohn ist mittelmäßig. Ich wusste, ich darf nicht auf seinem Feld mit ihm konkurrieren, sondern muss mir eines suchen, wo er sich nicht auskennt. Der größtmögliche Gegensatz von Fußball war da, wo ich aufgewachsen bin, etwas wie Theater.“

Ubung in radikaler Demokratie

Seine offenbar eher wenig inspirierenden E- und F-Fußballjugenderfahrungen sind ein Glück für die Kunst. René Pollesch, 54, ist seit Jahrzehnten einer der interessantesten Theatermacher. An Stücken und Schauspielpsychologie im klassischen Sinn ist er nicht interessiert, ihn treiben philosophische Fragen um: Wie wollen wir leben, denken, was ist Liebe, was ist Kapitalismus, was soll all das Theater? Die Frage der Repräsentation, wer spielt wen, warum spielen Frauen Frauen, Männer Männer, warum soll ein Mensch in die Rolle eines anderen schlüpfen?

All das wird auf der Bühne oft in irrwitziger Geschwindigkeit und mäandernden Wiederholungen verhandelt, mit hohem körperlichen Einsatz der Schauspieler, mit Hysterie, Witz, Ironie und tiefer Bedeutung. Und René Pollesch übt sich in relativ radikaler Demokratie. Seine Arbeitsweise, das hat er häufig erklärt, funktioniert so, dass er mit Textangeboten zur Probe kommt, wenn ein Schauspieler aber einen Satz nicht sagen will, wird er gestrichen.

Seit Anfang des Jahrtausends hat der ehemalige Schloss-Solitude-Stipendiat regelmäßig auch in Stuttgart gearbeitet. Damit wird vorerst Schluss sein, wenn Burkhard C. Kosminski2018 das Haus übernimmt. „Er hat mich bis jetzt nicht gefragt“, sagt Pollesch, „und, ohne zu werten, ich ihn auch nicht.“ So wird man nach Warschau fahren müssen, wo Pollesch seit einigen Jahren arbeitet, weil die Stadt noch liberal regiert wird. „In Polen bin ich weltberühmt!“, sagt er, einen Satz aus dem Film „Sein oder Nichtsein“ zitierend. Und man wird, etwas näher als Polen, nach Zürich fahren müssen, nach Wien und von nächster Saison an wieder nach Berlin. Nachdem Frank Castorf die Volksbühne verlassen hat, wo auch Pollesch gearbeitet hatte, pausiert er gerade „sozusagen aus Pietätsgründen“, wie er mit einem Lächeln sagt. Von den vielen Intendanten, die ihn umworben haben, hat er zu einem Ja gesagt, zu Ulrich Khuon vom Deutschen Theater. „Ich kenne ihn aus der Zeit vom Thalia Theater Hamburg, da hat er mich immer, und ich meine es positiv, in Ruhe gelassen. Und er hat Schauspieler im Ensemble, die ich gut kenne.“

Fünf Schauspieler und ein Frauenchor

Jetzt aber erst mal Stuttgart und die Frage nach dem Titel. Was hält uns, die Menschheit, zusammen – das klingt nach schwerer Sinnkrise. „Das hat vielleicht etwas Erzernes, das kann sein. Ich habe zu der Zeit, als der Spielplan vorgestellt wurde, den Soziologen und Philosophen Bruno Latour gelesen. Es ging dabei unter anderem um das Verhältnis von Menschen und Dingen und darum, wie gemeinschaftsstiftend Dinge sein können“. In Filmen sind es oft Dinge, die das Geschehen vorantreiben. Ein verlorener Schatz zum Beispiel. Handschellen, die Ausbrechende zusammenbringen, die einander hassen und die zum Filmfinale ein Liebespaar werden. Oder eben ein Ball, der das Spiel von 22 Menschen zusammenhält.

Es werden am Freitag fünf Ensemblemitglieder und ein Frauenchor zu sehen sein. „So ein Chor ist ein toller Partner für Schauspieler. Und die Bühne in Stuttgart ist groß, da ist es entlastend, einen zu haben.“ Nicht als dekoratives Objekt natürlich: „Der Chor spielt bei uns als eigenständige Person.“ Es geht nicht darum, dass ein Chor die kommentierende Funktion irgendeines Geschehens übernehme. Was sich ohnehin schwierig gestaltet hätte. Pollesch verzichtet auch dieses Mal auf lineare Handlungsführung.

Der Skandal um sexuelle Belästigung von Frauen als Thema

Fantasiert wird schon über die Frage, was die Welt zusammen hält. Aber eben hinsichtlich der Bilder, die wir uns von der Welt machen. Von Bruno Latour kommt Pollesch zu einer Ausstellung namens „The Whole World“. Es ging da um das erste Foto der Erde, das vom Weltall aus gemacht wurde. Pollesch: „Man sieht die Welt mit allen Menschen außer den dreien, die das Foto gemacht haben“. Die Veröffentlichung des Bildes verlangtwn damals Vertreter der Hippiekultur, die ein ganzheitliches Denken propagierten, das den Menschen als Teil und Zentrum des Kosmos betrachtet.

Das wiederum führt stracks ins Hier und Heute: zur narzisstischen Smartphone-, Selfie-, und Hashtag-Kultur. Und zum aktuell berühmtesten Hashtag #Metoo. Also zur Geschlechter- und Unterdrückungsdiskussion im Filmgeschäft (mit dem das Theater zumindest artverwandt ist). Der Hollywood-Produzent Harvey Weinstein soll Dutzende von Frauen sexuell belästigt haben. In Stuttgart thematisiert wird voraussichtlich auch der Hashtag, den daraufhin Männer erfanden: „How I will change“. Pollesch: „Hier sagten sie, was sie tun wollen, damit Diskriminierung ein Ende findet, nämlich sich selbst zu verändern, was sie aber ohnehin dauernd tun.“

Eine gutgemeinte, doch angreifbare Reaktion. Es sei eine irrige Vorstellung zu glauben, dass die Welt besser wird, wenn jeder sich selbst verbessert und ständig an sich arbeitet. Die ständige „Selbstrevolution“ spiele vor allem dem Neokapitalismus in die Hände, der die Verantwortung auf den Einzelnen übertrage, ohne eigentlich drängende soziale Fragen anzugehen. „Auch wenn sich heute jeder für den Mittelpunkt der Welt hält – wir werden durch konsequentes Mülltrennen die Welt nicht retten.“ Vielleicht, so fragt René Pollesch, wäre es radikaler, einfach mal zu sagen, „Wir sind schon gut genug.“

Für die Premiere an diesem Freitag um 19.30 Uhr im Stuttgarter Schauspielhaus gibt es noch Restkarten. Telefon 07 11 / 20 20 90.