Im Stuttgarter Theaterhaus hatte das Stück „Auch Deutsche unter den Opfern“ Premiere: Es setzt sich mit den NSU-Hintergründen auseinander und gerät spannend wie ein Krimi.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Wenn jemandem fünf Mal in den Kopf geschossen wird, und derjenige nicht sofort, sondern erst später im Krankenhaus stirbt, ist das nicht beinahe schon verdächtig? „Wie geht denn so etwas?“, fragen sich die Polizisten kopfschüttelnd und wenden sich wieder den Fakten zu: Schädelweichteilschüsse, Einschüsse in die Wangen, ausgeführt von einer Pistole des Typs Ceská CZ 83. Neun Morde haben sie aufzuklären, aber die Fälle sind schnell erledigt: „Ehrenmord“, „türkische Mafia“ oder „organisierte Kriminalität“, erklärt der Chef - „Fall erledigt“.

 

Das Ensemble des Stuttgarter Theaterhauses hat sich mit seiner neuen Produktion „Auch Deutsche unter den Opfern“ einen aktuellen und brisanten Stoff vorgenommen: die Hintergründe zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Tugsal Mogul hat das Stück geschrieben. Ein interessanter Mann – Mogul arbeitet in Münster als Anästhesist und ist quasi nebenher Schauspieler, Regisseur und Autor. Mit seinem Debüt „Halbstarke Halbgötter“ wurde er 2011 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen, sein Stück „Die deutsche Ayse“ wurde in den vergangenen Jahren an vielen Bühnen gespielt – auch am Theaterhaus Stuttgart.

Moguls neuer Text ist ein Rechercheprojekt, das sich nicht wie die meisten Stücke zum NSU nur mit Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos beschäftigt. Mogul hat akribisch Material gesammelt, das so spannend wie erschreckend vorführt, wie Polizei und Politik, Behörden und Verfassungsschutz agierten – und Ermittlungen mitunter regelrecht sabotierten. Vier Polizisten sitzen nun auf der Bühne des Theaterhauses (Ausstattung Gudrun Schretzmeier) und sichten die Akten zu den Opfern des NSU – dem 38-jährigen Blumenhändler oder dem 21-jährigen Inhaber eines Internetcafés, den Familienvätern und Ladenbesitzern. Männer mit Migrationshintergrund, die auf ähnliche Weise mit der identischen Waffe brutal niedergeschossen wurden. Und dennoch halten die Ermittler elf Jahre an der Behauptung fest, dass kein rassistischer Hintergrund vorliege, sondern Einzeltäter am Werk waren oder die türkische Mafia, die „so geheim ist, dass nicht mal die Mitglieder wissen, dass sie Mitglieder sind“, wie es ironisch im Stück heißt.

Das richtige Maß zwischen Unterhaltung und Reflexion

Denn Mogul hat nicht nur Informationen zusammen getragen zur Soko Bosporus oder der „Operation Konfetti“, bei der relevante Akten geschreddert wurden, zu Verstrickungen von V-Männern in die rechte Szene oder dem deutschen Ableger der US-Rassistentruppe Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg, der Polizisten angehörten. Er bereitet die Fakten mit jeder Menge Galgenhumor auf. „Das hab ich jetzt nicht gehört“, heißt es einmal, „das ging am rechten Ohr vorbei“. Als einer darauf hinweist, dass die Frau eines der Opfer wegen Verleumdungen sogar ihre Arbeit verloren hat, kommentiert der Polizeichef nur trocken: „Dafür hat jetzt jemand anderes einen Job.“

Die Regisseurin Janet Stornowski findet in ihrer Inszenierung das richtige Maß zwischen Unterhaltung und Reflexion. Bei einem Exkurs über den Verfassungsschutz und den V-Mann Andreas T. tragen die Schauspieler alberne Regenmäntel mit hochgestellten Krägen und geben sich geheimnisvoll zur Musik des „Rosaroten Panthers“ – und dennoch wird deutlich, wie der Geheimdienst die Polizei ausbremste und Informationen vertuscht wurden.

Für den Autor Tugsal Mogul ist der Fall nicht erledigt

Auch die Besetzung mit dem multikulturellen Ensemble des Theaterhauses erweist sich wieder einmal als kluger Zug, da eindimensionale Pauschalurteile so vermieden werden – hier die deutschen Täter, dort die türkischen Opfer. Katja Schmidt-Oehm ist eine Ermittlerin, die gern weghört. Ema Staicut und Aron Keleta mahnen, die Opfer nicht als Täter abzustempeln – und die Mischung der Hautfarben und Kulturen der Schauspieler vermittelt, dass Empathie oder Ignoranz keine Frage des kulturellen Hintergrunds sind. Yavuz Köroglu spielt den Chef des Polizeiteams – einen üblen Zyniker, der rassistische Witze erzählt und aus den Akten klare Schlüsse zieht: „So können Deutsche nicht morden, Fall erledigt.“

Für Tugsal Mogul ist der Fall nicht erledigt – und er demonstriert, wie fahrlässig und schlampig die Behörden gearbeitet haben. Zugleich will er den Beleg erbringen, dass Mörder mit nationalsozialistischer Gesinnung keineswegs nur Einzeltäter sind, sondern sich ein dichtes Netz rechter Ideologie durch die Gesellschaft zieht. Am Ende lesen die vier Darsteller die Namen der Opfer vor, die seit 1990 von Neonazis ermordet wurden: „auf den Kopf gesprungen“, heißt es da, „zu Tode gequält“, „unter den Augen der Polizei erschlagen“. Die Liste scheint nicht enden zu wollen.

Ein eindrücklicher, auch lehrreicher Theaterabend, spannend wie ein Krimi, erschütternd wie eine antike Tragödie. Schade, dass diese starke Inszenierung mit einer eher platten, allzu pathetischen moralischen Ermahnung endet: „Er ist unsere Gegenwart, die wir bewältigen müssen“, heißt es zum Schluss, und mit unangenehm erhobenem Zeigefinger wird an unser „Menschsein“ appelliert – statt in den Zuschauern nach dieser bewegenden Vorlage selbst den Wunsch nach „Menschsein“ reifen zu lassen.