Die Impfbereitschaft sinkt, die Inzidenz steigt. Den Preis für dieses unsoziale Verhalten zahlen unsere Kinder.

Kreis Böblingen - Es ist schon eine seltsame Sache mit der Solidarität. Noch vor zwei, drei Monaten wurden wir als Impf-Drängler beschimpft, wenn wir die Oma oder die schwangere Schwester als Betreuungsperson angegeben haben, um so den begehrten Impf-Termin zu ergattern. Mit Kopfschütteln haben wir in die USA geschaut, wo der bei uns noch so knappe Impfstoff wie sauer Bier angeboten wurde.

 

Und jetzt? Jetzt gerät die gerade erst in Schwung gekommene Impfkampagne immer mehr ins Stocken. Im Schneckentempo nähert sich die Zahl der vollständig geimpften Menschen in Deutschland der 50 Prozentmarke. Viel zu wenig, wenn wir die sich wegen der ansteckenden Delta-Variante auftürmende vierte Welle brechen und unsere Kinder im Herbst vor dem nächsten Schuljahr mit Fernunterricht und Maskenpflicht bewahren wollen.

Debattenkultur auf Kleinkind-Niveau

Wer verstehen will, woher diese Impfmüdigkeit kommt, der muss sich nur die peinliche Debatte anschauen, die sich auf Facebook zum Bericht über den zweiten Teil des Holzgerlinger Impfmarathons entzündet hat. Anfangs noch erschienen unter dem Beitrag vor allem lobende Kommentare, die sich für die wieder einmal beeindruckende Organisation und das Engagement aller Haupt- und Ehrenamtlichen bedankten.

Aber schon bald mischten sich die ersten kritischen Stimmen dazwischen. Wobei die Formulierung „kritische Stimmen“ noch sehr zurückhaltend gewählt ist. Selbst Kleinkinder in der Trotzphase dürften noch zu einer zivilisierteren Debattenkultur fähig sein. „Ja, setzt euch den Schuss! Dummvolk!“, schreibt zum Beispiel eine Kommentatorin und unterstreicht ihre Botschaft noch mit allerlei Emojis von kotzenden Smiley-Gesichtern und Kacka-Haufen. Auf diesem Niveau argumentiert sie dann auch weiter. Als ein anderer Kommentator sich die Frage erlaubt, warum es bei aller legitimen Kritik und Skepsis denn notwendig sei, gleich alle Impfwillen zu beleidigen, nennt sie ihn einen „lächerlichen Rhetorik-Pupser“ und fabuliert über ein „Menschenexperiment“, bei dem es nicht um die Gesundheit gehe, sondern um den Maximal-Profit der Pharmaindustrie und um die Reduzierung der Menschheit.

„Wissen ist eine Holschuld“

In der heutigen Zeit müsse man alles hinterfragen und kritisch betrachten, fügt sie hinzu. Genau das macht der andere Kommentator dann auch: Worin konkret bestehe denn die Gefahr, die von den Impfstoffen ausgehe und wie genau sehe eigentlich der Plan zur Reduzierung der Menschheit aus, will er wissen.

Zur Antwort schreibt die Frau etwas, das sie wohl besser selbst beherzigen sollte: „Wissen ist eine Holschuld.“ Genau das ist aber das Problem. Wer sein Wissen nur dort holt, wo er seine Meinung bestätigt bekommt, der hat kein Recht, andere als „Schafe“ und „Feiglinge“ zu beschimpfen.

Impfmündigkeit und Solidarität sind gefragt

Selbstverständlich gibt es viel zu kritisieren an der Corona-Politik in Bund und Ländern. Selbstverständlich gibt es bei dieser Pandemie nicht den einen richtigen Weg und die eine Wahrheit. Aber wer meint, es besser zu wissen, der muss sich schon fragen, was es bitteschön mit „kritischem Denken“ zu tun hat, wenn man die Meinung ausgewiesener Experten rundweg ablehnt und ihnen zum Teil sogar den Tod wünscht.

Im Moment sieht es so aus, als würden Impfskepsis und Impfmüdigkeit uns geradewegs in den nächsten Lockdown treiben. Was wir deshalb jetzt brauchen, ist Impfmündigkeit. Was wir deshalb jetzt brauchen, ist Solidarität. Solidarität unseren Kindern gegenüber. Denn sie sind es, die am Ende den Preis dafür bezahlen, dass andere sich auf ihrem Facebook-Halbwissen ausruhen und uns ach so dummen und feigen Impfwilligen etwas von „Freiheit“ erzählen. Dabei sind gerade sie es, die uns am Ende die Freiheit nehmen – uns und vor allem unseren Kindern.