Der Tod wird beim Kirchentag auf dem Pragfriedhof auf eindrucksvolle Weise thematisiert. Wer bei der Veranstaltung „Da legschd di niedr“ mit zwei Frauen spricht, die sich bestens mit dem Sterben auskennen, lernt etwas fürs Leben.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Im Angesicht der Dauerbeschallung auf dem Evangelischen Kirchentag ist Stille die so einfache wie wirksame Methode, um eine große Zahl von Menschen für einen kurzen Moment zur Einkehr zu bringen. Die Besucher des Pragfriedhofs scheinen die Stille geradezu aufzusaugen an diesem Donnerstagabend. Unterbrochen wird die himmlische Ruhe nur durch die Performance des Teatro Piccolo, einer Stuttgarter Theatergruppe, die sich auf dem Friedhof passenderweise mit dem Tod auseinandersetzt. Eine Schauspielerin liegt mit einem Infusionsbeutel auf einem Grab Probe. Eine andere sitzt in einer Holzkonstruktion und singt alle paar Minuten „Happy Birthday to me“. Eine dritte trägt ihre Holzstation mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Friedhofsweg, wie einst Jesus sein Kreuz geschultert hat.

 

Die Veranstaltung „Da legschd di niedr! – Berührungen auf dem Friedhof“ bringt die Losung des Kirchentags „damit wir klug werden“ wie kaum eine andere auf den Punkt. Im Motto des Kirchentags aus dem Psalm 90 wird auf die eigene Sterblichkeit hingewiesen. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es im Vers 12, und nicht wenige Beobachter hatten vor dem Kirchentag Angst, dass das Thema Vergänglichkeit bei der kollektiven Suche nach Klugheit zu kurz kommen könnte.

Zwei Frauen aus Stuttgart sind mit dem Tod vertraut

Dass man als Besucher der „Besser sterben“-Veranstaltung klug wird, nachdem man über Vergänglichkeit gesprochen hat, liegt an zwei Frauen, die sich bestens mit dem Tod auskennen. Andrea Haller ist Bestatterin und Theologin, Elisabeth Kunze-Wünsch ist die Leiterin des Hospizes Stuttgart. Beide Frauen gehen auf eine erstaunlich entspannte und reflektierte Weise mit dem Sterben um.

Andrea Haller zeigt auf dem Pragfriedhof den Sarg, den sie für sich selbst gestaltet hat. Ihr Kollege Alexander Fluhr stellt andere, künstlerisch in Szene gesetzte Modelle vor. Die Besucher dürfen Probe liegen, es herrscht eine beinahe heitere Stimmung. Ein Selfie aus dem Sarg ist eben nicht alle Tage ungestraft möglich. Dass die Veranstaltung nicht ins Alberne kippt, ist Andrea Haller zu verdanken. „Ich freue mich auf den Tod, denn ich bin sehr versöhnt mit meinem Ende“, sagt die 47-Jährige, die 15 Jahre im englischsprachigen Ausland gelebt hat, wo man sich mit dem Tod mitunter unverkrampfter als in Deutschland auseinandersetzt. „Mit dem Thema Sterben gehen wir erst seit zehn bis 20 Jahren offen um“, sagt Haller. Die Generationen zuvor seien zu sehr vom Sterben im und der Schuld am Zweiten Weltkrieg traumatisiert gewesen.

Hospizbewegung bringt Tod ins Leben zurück

Heute sei der Tod in Stuttgart ins Leben zurückgeholt. „Einen großen Anteil daran haben die Aufbahrungsräume, die es auf jedem Stuttgarter Friedhof gibt. Diese Begegnung mit dem Tod hat etwas Normales und gibt uns die Gelegenheit, uns darauf vorzubereiten“, sagt Andrea Haller. Einen großen Anteil an der Enttabuisierung des Sterbens habe außerdem die Hospiz-Bewegung in Stuttgart, sagt Haller und leitet über zu Elisabeth Kunze-Wünsch. Die Leiterin des Stuttgarter Hospizes hält an diesem Abend das Gebet zur Nacht. In ihrem Beruf setzt sie sich tagtäglich mit dem Tod auseinander. „Für mich hat das Sterben nichts Resignatives und nichts Depressives. Im Bewusstsein der Grenze kann man stattdessen das Leben besser genießen“, sagt Kunze-Wünsch. Voraussetzung dafür sei aber die Palliativmedizin. „Ich will nichts schönreden, die meisten Menschen leiden auf der Station bei uns. Und dennoch ist da die Gewissheit, dass das Leben schön ist. Viele erleben eine Versöhnung angesichts der nahenden Grenze“, hat Kunze-Wünsch beobachtet.

Die Hospiz-Bewegung ist in Deutschland deutlich jünger als anderswo. „Wir haben hier lange gebraucht, Sterbende und Trauernde adäquat zu unterstützen“, sagt Elisabeth Kunze-Wünsch und führt diesen Umstand wie Andrea Haller auf das deutsche Weltkriegstrauma zurück. „Wir Deutschen sind die Spätzünder der Hospizbewegung, hier wurden die ersten in den 80er Jahren eröffnet, in England war das schon viel früher geschehen“, erklärt Kunze-Wünsch und betont, wie bedeutend Angebote für trauernde Menschen seien.

Wie Kinder ihre Trauer ausdrücken

Auf den Austausch folgt ein Abschiedsspaziergang über den Friedhof und die berührendste Begegnung mit dem Tod an diesem Abend. Neben den Trauerräumen des Pragfriedhofs, die auch nach dem Kirchentag immer dienstags und donnerstags von 13 bis 15 Uhr geöffnet sind, findet die Ausstellung „Einblicke – Kinder zeigen ihre Trauer“ statt. In einem kleinen Raum hängen Zeichnungen an der Wand. Auf einem Bild hat ein Kind einen kleinen gelben Vogel gemalt, der von einem großen blauen Vogel durch einen dicken Strich getrennt ist. „Ich“ steht über dem blauen Vogel, „Papa“ über dem gelben. In einer rührenden Kinderhandschrift steht unter den Vögeln der Satz: „Ich komme einfach nicht durch die Wand, um Tschüss zu sagen.“

Eindrücklicher kann man das Thema Vergänglichkeit kaum thematisieren. Wer in diesem Raum nicht weint, hat kein Herz, um klug zu werden.