Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger würdigt die Zivilcourage der russischen Organisation Memorial und kritisiert westliche „Ratschläge“ an die Ukraine.

Auch eine historisch arbeitende Organisation kann den Menschenrechten dienen: Am Samstag ist im Neuen Schloss in Stuttgart dem russischen Verband Memorial für seine couragierte Arbeit für Demokratie und Menschenrechte der 57. Theodor-Heuss-Preis verliehen worden. In der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fand die Theodor-Heuss-Stiftung eine würdige Persönlichkeit, die anstelle der ihr Kommen absagen müssenden Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Laudatio im voll besetzten Weißen Saal des Schlosses hielt.

 

Die Schrecken des Stalinismus

Memorial war in den 90er Jahren gegründet worden, um die Schrecken des Stalinismus historisch aufzuarbeiten, gegen Vertuschung und Geschichtsverdrehung, wie sie auch Kremlchef Wladimir Putin vornimmt. Angehörige von Opfern wurden durch Archivarbeit über das Schicksal von Verschwundenen aufgeklärt, Memorial entwickelte sich zur größten Menschenrechtsorganisationen Russlands. Seit dem Verbot durch russische Behörden unter dem Vorwand ausländischer Agententätigkeit muss Memorial – jetzt Memorial International - aus dem Exil operieren.

Der Giftnebel der Lügen

Aber die Mitgründerin Irina Scherbakova machte in Stuttgart deutlich, dass es verwandte Organisationen gebe, die jetzt in Russland noch „unter schwierigsten Bedingungen“ weiterarbeiten. „Wir können den Machthabern nur die Kraft des Schwachen entgegensetzen, aber wir müssen den Giftnebel, der die historische Wahrheit verdecken soll, auflösen“, sagte Scherbakova. Gefragt, was angesichts des Angriffskrieges der Westen tun müsse, sagte sie: „Der Ukraine mit allen Mitteln helfen, alles andere greift nicht.“ Der Theodor-Heuss-Preis soll zivile Gruppen im Kampf gegen Recht, Freiheit und Demokratie ermutigen. Diese Hoffnung sprach auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aus: „Durch das Verbot sollte Memorial mundtot gemacht werden. Das wird nicht passieren, Memorial ist unverzichtbar, Putin darf die Geschichte nicht schwärzen.“

Düstere Menschenrechtslage

Die liberale Politikerin gab einen Abriss über die globale, düstere Menschenrechtslage von Afghanistan, über die Türkei, China aber auch EU-Mitglieder wie Polen und Ungarn. Sie zitierte den ersten Satz der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 - „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ –, die immerhin von 191 Staaten unterzeichnet worden sei. Sie seien damit auch eine Selbstverpflichtung eingegangen.

Mehrfach Zwischenapplaus bei der Laudatio

Mehrfach wurde Leutheusser-Schnarrenberger von Zwischenapplaus unterbrochen, etwa als sie Demonstranten hierzulande kritisierte, die „gegen die Diktatur in Deutschland“ auf die Straße gingen: Die sollten mal ihre Situation mit der in Russland oder Belarus vergleichen. Die ehemalige Bundesministerin kritisierte auch „Ratschläge“ aus Deutschland an die Ukrainer, sich Putin „zu opfern“ und auf den Krieg zu verzichten, „damit wir hier wieder unsere Ruhe haben“. Die Ukrainer verteidigten legitim ihr Leben und ihre Freiheit: „Niemand hat das Recht, über ihr Leben zu bestimmen.“ Schließlich ging sie auf ihre mit Gerhart Baum verfasste 140 Seiten lange Strafanzeige gegen Putin bei der Bundesanwaltschaft ein, die zehn sehr konkrete Ereignisse mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung enthalte. Sie sei nicht „naiv“, so Leutheusser-Schnarrenberger, aber es gehe darum, ein „Signal in den Krieg zu setzen“. Sie erwarte zügig die Ausstellung von Haftbefehlen gegen Putin. Er müsse damit rechnen, eines Tages zur Verantwortung gezogen zu werden.

Videogruß vom Ministerpräsidenten

Nie hat die Verleihung des Theodor-Heuss-Preises wohl so eine hohe Aktualität erfahren wie diesmal. Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) – er war wegen eines anderen Termins nur per Videogruß zugeschaltet – ging auf den russischen Angriffskrieg ein, der sei ein Verbrechen und Zivilisationsbruch, der nicht nur gegen die Ukraine, sondern die europäischen Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte gerichtet sei. Kretschmann zitierte Theodor Heuss, wonach Demokratie nicht nur eine staatliche Ordnung sei, sondern eine Lebensform sei. Eine Kultur des Zusammenlebens von mündigen Bürgern, die sich mit Respekt und Achtung begegneten.

In Russland scheint dies derzeit zerbrochen. Aber die Stuttgarter Bildungsbürgermeisterin Isabel Fezer baute eine Brücke in eine bessere Zukunft mit dem Hinweis, es sei Memorial International, das mit seinen Netzwerken und Datenplattformen „die Tür zu Russland offen halten“ könne für die Zeit nach dem Krieg und „um mit den Menschen wieder ins Gespräch zu kommen“. Fezer zeigte sich beeindruckt über die Arbeit von Memorial, dem einst russische Frontsoldaten das starke Bedürfnis übermittelten, die Wahrheit über die stalinistische Kriegsführung zu erzählen. Gut möglich, dass dies eines Tages auch für russische Soldaten gilt, die jetzt in der Ukraine sind.