Patient Nummer eins an diesem Dienstagmorgen ist ein Strahlemann: Ein halbes Jahr ist der Junge alt, der in Sprechzimmer 2 zufrieden auf dem Schoß seines Papas sitzt. Die U-Untersuchung des Entwicklungsstands steht an. Für das Baby ist es die fünfte U – für seinen Kinderarzt eine der letzten seines Berufslebens.
26 Jahre lang hat Thomas Jansen im Flamingoweg in Neugereut Kinder untersucht: Sie gewogen, abgehört, geimpft, verbunden und ihren Eltern, von denen manche schon als Kinder bei ihm waren, mit Rat zur Seite gestanden. Wenn diese Geschichte erscheint, wird die Praxis geschlossen sein. Einen Nachfolger konnte der in wenigen Wochen 67-Jährige nicht finden, trotz jahrelanger Suche.
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Thomas Jansen hat seinen Renteneintritt nach hinten geschoben, den zweiten kräftezehrenden Coronawinter drangehängt. Es tat sich keine Perspektive auf. Sprach er mit den wenigen Kolleginnen, die mit der Niederlassung liebäugelten, erlosch das Interesse spätestens bei der Adresse: am „falschen Ende von Stuttgart“. Es gab stets Alternativen in attraktiveren Gegenden.
Viele Kinder sind noch unversorgt
In Sprechzimmer 2 fallen die leeren Regalbretter auf. Eine weitere Fuhre Bücher wird Jansen nachher zum Altpapier bringen. Doch das ist in diesem Moment weit weg. Die Hauptrolle spielt gerade klar Baby Noah (Patientennamen geändert). „Das Baby entwickelt sich gut?“, fragt Jansen. Noahs Vater nickt.
Die Untersuchungen verlaufen erfreulich: Noah reagiert auf die Rassel, stützt sich in Bauchlage hoch, lacht. Auch Gewicht und Größe sind gemäß der Kurven im U-Heft. Nur der rasselnde Atem gefällt dem Kinderarzt nicht. Den hat der Bub schon länger. „Ich glaube, dass man da etwas machen muss“, sagt Jansen. Er stellt die Überweisung zur Kinderlungenärztin aus – und spricht mit dem Vater noch über die Gefahr von Unfällen: „Kaffee mit dem Baby auf dem Schoß ist brutal gefährlich!“
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Noah ist das vierte Kind der Familie, die in einer Flüchtlingsunterkunft wohnt. Jansen weiß, dass es gerade für Eltern, die schlecht Deutsch sprechen, schwierig ist, einen Kinderarzt zu finden. Ein Teil der Eltern hat sich wohl noch gar nicht gekümmert. Er sorgt sich besonders um entwicklungsverzögerte Kinder. Im Dezember, als klar war, dass er keinen Nachfolger findet, hatte Jansen rund 1900 Patientinnen und Patienten. Es war schon im Bezirksbeirat Thema, dass viele Familien unversorgt sind und andere nun weite Wege in Kauf nehmen müssen, auch in andere Landkreise.
Woher kommt die Kraft, fragt der Vater kraftlos
Noah und seine Geschwister haben eine Ärztin gefunden. Patient Nummer 2 noch nicht. Auch er wird vom Papa begleitet. Der Einjährige hat Durchfall, ist für die U 6 da. Kennt er seinen Namen? Spricht er schon? Was sagt er? Und schließlich, Minuten später, eine Frage, auf die der Vater wohl nur gewartet hat: „Wie läuft es mit dem Schlafen?“ Der Mann ist verzweifelt. Sein Sohn schlafe um 22.30 Uhr ein, wache um 2.30 und um 5.30 Uhr auf. Um 6.30 Uhr sei die Nacht vorbei. Er mache keinen Mittagsschlaf. „Woher kommt die Kraft?“, fragt er kraftlos. Ob sein Sohn stationär ins Krankenhaus kommen könne, damit man dort eine Lösung findet?
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Die schnelle Lösung gebe es nicht, sagt der Kinderarzt ehrlich. Er rät zur ambulanten Babysprechstunde. Sein Sohn bekomme sehr viel mit, was gut, aber anstrengend sei. Zudem zahne er gerade stark. „Ihr Kind wird Schritt für Schritt größer, es wird einfacher“, beruhigt Jansen.
Eigentlich wollte er den Buben geimpft haben, das geht wegen des Durchfalls jetzt aber nicht. Wenn es wieder geht, ist die Praxis schon zu. Jansen begleitet den Vater zum Empfang. Dort bekommt er die Adresse einer Ärztin aus Möhringen, bei der er die Impfung vornehmen lassen könne. Alternativ: bei der Terminnummer 116 117 anrufen. Weiter geht’s: In Sprechzimmer 1 warten Geschwister auf Impfung und Blutabnahme. Und Jansen lässt Patienten ungern warten.
60 Stunden will keiner mehr
Der Pädiater war lange Obmann der Stuttgarter Kinderärzte. Er hat schon vor Jahren gewarnt, dass Praxisübernahmen schwieriger werden. Weil der medizinische Nachwuchs meist weiblich ist und wegen eigener Kinder lieber angestellt und in Teilzeit arbeitet. Dass zu wenig Nachwuchs nachkommt, da es zu wenig Studienplätze gibt. Dass die hohe Arbeitsbelastung und die vielen Vorgaben Niederlassungen unattraktiv machten.
Nun führt ausgerechnet seine Praxisaufgabe dazu, dass Stuttgart erstmals seit 1993 offiziell nicht mehr als überversorgt gilt mit Kinderärzten. Eltern klagen schon lange über einen Mangel. Die Lage werde sich weiter zuspitzen, meint Jansen, angesichts von vielen Kollegen im Rentenalter und dem Babyboom der vergangenen Jahre.
„Das ganze Gebiet weint“
Die Türglocke läutet, das Telefon auch. Susanne Eberhardt kommt kaum hinterher. Die Medizinische Fachangestellte ist alleine am Empfang, eine Kollegin ist in Quarantäne. Da sind die, die auf den letzten Drücker ein Rezept, eine Überweisung, die Patientenakte abholen. Die mit Termin – und die, die einfach so kommen: um Dankeskarten, Schokolade, Blumen, Selbstgenähtes zu bringen. Ein Stoffherz lehnt am Tresen.
„Das ganze Gebiet weint“, sagt der Vater einer Neunjährigen, die Patientendaten seiner Tochter in der Hand. „Er hat sich immer Zeit genommen, und sein Team ist super“, sagt der Stuttgarter. Sie habe „Rotz und Wasser geheult“, sagt eine Mutter, die für ein Rezept und zwei Verordnungen gekommen ist. Ob sie ab jetzt um die Logo- und Ergotherapie für ihren Sohn kämpfen muss? „Es ist eine Katastrophe“, meint auch der Vater eines chronisch kranken Kindes, der eine Pralinenschachtel dabei hat. Sie haben einen neuen Arzt, aber so viele nicht. „Da gibt es eine Riesenlücke!“
Mit knapp 60 Patienten an dem Vormittag zu tun gehabt
11.30 Uhr. Thomas Jansen trägt Schutzkleidung. Die U-Untersuchungen sind längst vorbei, die Infektsprechstunde ist in vollem Gang. Es kommen Kinder mit Durchfall, Ohrenschmerzen, Husten, Fieber – und Corona. Jansen nimmt Abstriche, hört ab, fühlt Bäuche, schaut in Ohren, schreibt Rezepte. Eine Jugendliche ist genesen, klagt über Kopfschmerzen und Müdigkeit. Noch sei es zu früh, über Long Covid zu sprechen. Er nimmt Blut ab. Da sie Vegetarierin ist, könnte Eisenmangel eine Rolle spielen. Nach jedem Patienten: Fenster auf, Flächen desinfizieren. 22 Kinder und Jugendliche schaut sich Jansen zwischen 8 und 13 Uhr an. Mit 59 Patienten hat die Praxis an dem Vormittag zu tun. Eine der letzten Patientinnen ist Anna. Die treffenden Abschiedsworte der Fünfjährigen? „Hier ist es bestimmt anstrengend. Du machst jetzt einfach etwas ruhiger.“
Ein weiterer Arztsitz ist ausgeschrieben
Zahlen
In Stuttgart gibt es laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) 52 von Kinder- und Jugendärzten belegte Arztsitze beziehungsweise von April an noch 51. Nach Köpfen gerechnet seien es 80 Kinderärztinnen und Kinderärzte, darunter aber auch 14 ermächtigte Krankenhausärzte und eine Reihe an Spezialisten. Derzeit sei ein Arztsitz öffentlich ausgeschrieben: mit dem Schwerpunkt Kinderkardiologie. Durch Thomas Jansens Rückgabe der Zulassung gibt es wieder eine Niederlassungsmöglichkeit in Stuttgart.
Einfluss
Der Einfluss der KV auf den Ort einer Zulassung ist laut Sprecher Kai Sonntag gering. Man könne nur informell, beratend tätig werden. Der Zulassungsausschuss könne „eingreifen, wenn es mehrere Bewerber gibt und dann eine Auswahl treffen“, so Sonntag. Das Auswahlkriterium wäre dann die Versorgungsrelevanz. Berücksichtig würde die Bewerbung für den Standort, wo Kinderärzte am meisten gebraucht werden. vv