Feuer und Eis, Raserei und Stillstand: Im Mannheimer Nationaltheater besorgt Marie Bues, Intendantin der Stuttgarter Rampe, die Uraufführung von Thomas Köcks „paradies spielen“.

Stuttgart - Verfechter der konsequenten Kleinschreibung, zu denen auch Thomas Köck gehört, machen aus dem ICE ein ice. Rückübersetzt aus dem Englischen landen sie also im Eis und im Fall des kleinschreibenden Jungdramatikers bei einer Großmetapher: In seinem neuen Stück „paradies spielen“ fährt, rattert, saust und fliegt ein ICE, um Verspätungen einzuholen, an geplanten Haltestellen vorbei und hinterlässt empörte Passagiere. Das soll es auch in der Wirklichkeit geben, aber die Dichterfantasie schießt weit über den täglichen DB-Wahn hinaus und setzt die Reisenden schließlich „im ewigen ice der spätmoderne“ fest. Der rasende Stillstand: eingefroren. Und die erschöpften Passagiere: erledigt von einer scharf schießenden App, die sich der existenziell verzweifelte Kondukteur auf sein Smartphone geladen hat.

 

Die Killer-App stammt nicht von Thomas Köck, sie ist eine szenische Zugabe von Marie Bues, die „paradies spielen (abendland. ein abgesang)“ jetzt im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt hat. Die bizarre ICE-Fahrt indes bildet einen von drei Handlungssträngen, die der 1986 in Oberösterreich geborene, derzeit hochgehandelte Autor in seinem Drama zu einer globalen Dystopie verknüpft. Die Erinnerung an den Vater, der sich als verwirrter Prometheus selbst „das Feuer gibt“ und im Koma liegt, ist ein weiterer Strang. Und ein dritter: Wanderarbeiter, die sich aus dem chinesischen Zhengzhou auf die dreiwöchige Zugfahrt ins italienische Prato machen, um dort Billigklamotten „Made in Italy“ zu nähen – und auch das ist, wie die Selbstverbrennung des Vaters, nicht die Erfindung eines überhitzten Dichterhirns, sondern kalte, nackte Wahrheit: In der toskanischen Stadt leben fünfzigtausend chinesische Arbeiter unter erbärmlichen Bedingungen.

Harte Montage von Aggregatzuständen

Feuer und Eis, Elend und Verzweiflung, Bewegung und Erstarrung sowie die Frage, wie das Böse in die Welt kommt – das und viel mehr schichtet Köck in seinem Drama ineinander und übereinander, dabei eine post-expressionistische Sprache nutzend, die sich sehr um heißkalte Verschmelzungen von Gestern und Heute, von Privatem und Politischem bemüht. Kein Satzzeichen hindert den Fluss des Textmaterials, weshalb „paradies spielen“ keines der „hunderttausend wohltemperierten Well-made-Plays“ ist, vor denen es Köck graust: Landauf, landab würde damit das Publikum sediert, sagt der Dichter im Programmheft. Er aber tut das wahrlich nicht. Den Teil der Zuschauer, den er mit seiner Maßlosigkeit nicht ratlos zurücklässt, rüttelt er mächtig auf mit der Ambitioniertheit der Form und den Wucherungen des Inhalts.

In Mannheim nimmt es Marie Bues, Intendantin der Stuttgarter Rampe, fantasievoll mit der Köck’schen Überwältigungsdramaturgie auf. Für die drei Handlungsstränge findet sie im Werkraum drei extrem unterschiedlich temperierte und ästhetisierte Zugänge, Bilder, Tableaus. Im Licht eines Streichholzes schält sich der Sohn aus dem Bühnenschwarz und nähert sich mit heiliger Angst dem im Sterben liegenden Vater, ein Monolog im Kammerton, der vom dialogischen Geschnatter der Tierkostüme tragenden ICE-Reisenden abgelöst wird – und diese surreale Alltagsgroteske wird gekontert vom dämonischen Chor der Ausgebrannten, der last not least vom chinesischen Migrantenpaar ergänzt wird, das in atemloser Alptraum-Realistik sein Wanderschicksal rekapituliert. Harte Montagen von Aggregatzuständen, die einander bedingen: Bues gelingt es, die Unterströme zwischen Feuer und Eis erahnbar zu machen – und es gelingt ihr vielleicht auch deshalb so gut, weil sie schon einmal in eine Köck-Partitur hineingehört hat.

Aus Partner werden Konkurrenten?

Vor einem Jahr inszenierte sie in ihrem Stuttgarter Stammhaus „paradies fluten“, den ersten Teil der so genannten, jetzt mit „paradies spielen“ abgeschlossenen „Klimatrilogie“ von Thomas Köck. Die von Bues zusammen mit Martina Grohmann geleitete Rampe hat sich bundesweit ein Profil als Gegenwartstheater mit Erst- und Uraufführungen erarbeitet. Nichts anderes aber soll auch aus dem Stuttgarter Schauspiel werden, wenn dort im Herbst der noch in Mannheim amtierende Burkhard Kosminski seine Intendanz antritt. Jetzt, im Werkraum, waren Bues und Kosminski noch Partner. Sind sie bald Konkurrenten?