Vom Tänzer zum Objektkünstler: Seit Thomas Lempertz seine Karriere als Tänzer des Stuttgarter Balletts beendet hat, erfindet er sich immer wieder neu. Nun überrascht er mit der Ausstellung „Liquid Skin“.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Knapp zehn Jahre nur war Thomas Lempertz Tänzer des Stuttgarter Balletts. Doch viele Auftritte des Solisten waren so intensiv, dass sie sich ins kollektive Stuttgarter Ballettgedächtnis eingeprägt haben. 2003 hatte sich Lempertz von der Bühne verabschiedet, um seiner beruflichen Laufbahn eine neue Richtung zu geben. Viel länger währt also inzwischen seine Karriere jenseits der Stuttgarter Staatstheater, erst als Ladenbesitzer und Modeschöpfer, dann als Kostümbildner, nun als bildender Künstler, der in den vergangenen vier Jahren in Stuttgart an der Kunstakademie „Intermediales Gestalten“ studierte.

 

Wer einen Blick in die Ausstellung tut, die Thomas Lempertz derzeit in der Galerie Kernweine unter dem Titel „Liquid Skin“ als Künstler vorstellt, kann sehen, wie der Tanz weiterhin sein Denken und seine Arbeit bestimmt. Die Haut als bewegte Oberfläche des Körpers, die alle Vorgänge darunter, das Spiel der Muskeln etwa, nur erahnen lässt, ist ihr Thema. Lempertz arbeitet in seinen bildhaften Objekten mit einer milchig-transparenten Deckschicht, die sich wie eine zweite Haut über fotografische Motive legt und sie eintrübt. Von glasklarem Glanz ist die gegossene Silikon-Oberfläche und verwehrt doch den Durchblick: auf ein Selbstbildnis mit schlangenförmigen Hautwucherungen, auf abstrakte Farbpunkttänze.

Freier Blick aufs Muskelspiel

Sehr präsent ist das Thema der fließenden Oberfläche in einer Video-Installation im Kellergewölbe, die den Tänzer Friedemann Vogel als bewegte Skulptur inszeniert. Ob in sich gekauert oder mit schwingenden Armbewegungen in den Raum greifend: Auch bei der Eröffnung der Ausstellung ließ der Starsolist des Stuttgarter Balletts das im kleinen Galerieraum dicht gedrängte Publikum in dieser Performance quasi hautnah miterleben, wie er Bewegungen sehr gezielt steuert und so die Oberfläche seines Körpers etwas transparenter zu machen scheint; fast meint man, freien Blick auf Muskeln zu haben.

Dieser Gegensatz von Drüber und Drunter, von matter und reflektierender Materialität findet sich auch bei vielen Tänzerkostümen, die Thomas Lempertz seit einigen Jahren für Choreografen wie Marco Goecke, Kevin O’Day und zuletzt Bridget Breiner entworfen hat. Schlicht sind seine Kreationen, wie eine zweite Haut stören sie die Bewegung nicht. Und häufig braucht es einen zweiten Blick, um die feinen Irritationen innerhalb von Stoff-Oberflächen und -Farben zu entdecken. Die skulpturalen Objekte in der Ausstellung „Liquid Skin“ macht aber auch ein zweiter Blick nicht weniger abstoßend: Lange Strähnen schwarzer Haare hängen aus einem Bild, als hätte der amerikanische Künstler Robert Gober Tipps gegeben; eine schweinchenfarbene, tropfige Silikonschicht verwandelt zerschnittene Spitzenschuhe in eine erotisch aufgeladene 3-D-Collage.

Wir sind fixiert auf Oberflächen

Der provozierte Ekel ist Programm. Wir leben in einer extrem auf Oberflächen fixierten Zeit, das Vordringen in die Tiefe erfordert Überwindung. Als Tänzer hat Thomas Lempertz das Streben nach Perfektion verinnerlicht; als Künstler muss er sich davon befreien, um experimentieren zu können. Sein Material hilft ihm dabei, dem Gießen gehen klare Entscheidungen voraus, die dann unter der Silikonschicht irreversibel sind – wie die Vorstellung eines Tänzers nach dem Fallen des Vorhangs, nur weniger vergänglich. Auf diesem Spannungsfeld gelingt Thomas Lempertz ein erstaunliches Debüt; das neue Material, das er für sich entdeckt, eröffnet viele Möglichkeiten.