Thomas Melles neuer Roman handelt von Schuldverhältnissen in einer Gesellschaft. In „3000 Euro“ setzen zwei Menschen ihr Leben auf Spiel. Sie verlieren, aber der Leser gewinnt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Zwei nicht mehr ganz junge Leute. Der eine, Anton, aus einer vielversprechenden Juristenkarriere in einem durchrauschten Sommer an den Rand der Gesellschaft abgestürzt. Die andere, Denise, alleinerziehend, nach einem Pornodreh wieder an der Registrierkasse eines Supermarkts gelandet, wo sie sich verfolgt fühlt von den vor Geilheit triefenden Erinnerungsflashs in den Blicken der Männer, die in ihren einsamen Momenten im Internet womöglich auf ihre Videos gestoßen sind. Anton hat in einem konsumistischen Amoklauf Schulden angehäuft, dreitausend Euro, riecht schlecht und haust zurzeit, wenn er nicht gerade auf der Straße schläft, in einem Übergangswohnheim. In ein paar Tagen steht ein Gerichtstermin an, der über seinen endgültigen Ruin entscheidet. Denise hat Ärger mit ihrer Tochter, hält sich mit sozialen Netzwerken und tristen One-Night-Stands mehr schlecht als recht im Spiel und träumt von New York. Um dahinzukommen, bräuchte sie die dreitausend Euro von dem Pornojob, doch die zahlen nicht. Und als sie das Geld einzutreiben versucht, landet sie prompt in der nächsten Nummer.

 

Thomas Melles Roman „3000 Euro“ handelt von Schuldverhältnissen in einer Gesellschaft, in der das Internet die Ökonomie der Triebe reguliert, die Popkultur das Reich der Träume und das Geld den tristen wachen Rest. Solange man dazugehört, geht alles seinen Gang. Wenn nicht, selber schuld. Dann freilich wird das monetär geschmierte Getriebe des großen Ganzen in seiner Unerbittlichkeit offenbar, und wer hineingerät, wird unbarmherzig von oben nach unten durchgereicht und zermahlen.

Die letzten Tage im Leben eines Gefallenen

Im Sozialarbeiterjargon gilt Anton als „seelisch labil“. Seine Selbsterkenntnis trottet der eigenen Entwicklung hinterher. „Als er die Pubertät bemerkte, war sie fast schon wieder vorbei.“ Das Gleiche gilt für sein Liebesleben, seine Möglichkeiten – Musiker, Schauspieler, Jurist. Jetzt stiert er im Müll nach leeren Flaschen. Nein, natürlich ist die Gesellschaft nicht an allem schuld. Als Arbeiterkind hat er ein glänzendes Abitur abgelegt, auch im Studium beste Noten. Und doch war vieles schon verspielt, bevor seine eigene Schuldkarriere begann. Anders gesagt: manche Begabung ist gekränkt von dem, was das Leben ihr zu bieten hat, nicht umgekehrt.

Das jedenfalls, in was die Freunde von einst abgebogen sind, Bürger, Spießer, Anwälte, ist nicht weniger kalt gezeichnet als die letzten Tage im Leben dieses Gefallenen. Manch einer von ihnen dürfte zu den digitalen Verehrern Denises gehören, bei deren unappetitlichen Kommentarergüssen sie sich fragt, wie es zugeht, dass sie mit ihrer mittleren Reife korrekter schreibt als alle diese angeblichen Akademiker, die unter dem Deckmantel der Anonymität ihre widerlichsten Seiten zeigen.

Ein Leben im Autopilot

„Es gibt keine Ereignisse mehr“, denkt Anton einmal, „es gibt nur noch Folgen in meinem Leben, Folgen von Ereignissen, an die ich mich kaum erinnern kann, und Folgen von Folgen von Sachen, die verschüttgegangen sind und auf irgendwelchen Bögen und Schreiben wieder auftauchen, und Folgen von Folgen von Folgen, die das Leben ins Unerträgliche verzinsen.“ So rasen diese beiden entgleisten Geschichten auf das ihnen jeweils bestimmte Unglück zu, Denise im Autopilot speedversüßter Bewusstlosigkeit, Anton in der ruinösen Zahlendynamik der Zinsspirale.

Doch an einem Punkt kreuzen sich ihre Wege, es hätte für beide ein Wendepunkt werden können. Hoffnungslosigkeit ist, was beide eint, darin liegt ein Hoffnungsschimmer. In einer seltsamen Vereinigungsszene fügt Anton das abgespaltene pornografische Trugbild mit Denises Körperlichkeit wieder zusammen. Diese wiederum könnte Anton freikaufen, als das Geld für ihre Selbstpreisgabe endlich fließt. Dass sie es unterlässt, ist die vielleicht lässlichste und doch traurigste Schuld, die in diesem Roman aufläuft. Denn sie verspielt jenen Rest an Autonomie, der diesen Gestalten in der düsteren Kausalität ihres verkrachten Lebens noch bleibt.

Produktives Schuldverhältnis

Melles Roman bebt vor Gegenwärtigkeit. Vom prekären Rand aus nimmt er das Ganze in den Blick und präsentiert nüchtern das uneingelöste Glücksversprechen, mit dem die Gesellschaft ihre demolierten Mitglieder an sich bindet: Kredite, Pornografie, Internet oder der Unterhaltungstrash, nach dem Denise ihre Erlebnisse buchstabiert. Die, die für ihre Schulden bitter büßen müssen, bleiben selbst als Geprellte zurück.

Melle erzählt davon nicht mit der wohlfeil-kritischen Distanz eines Zivilisationsmüden, sondern verstrickt bis in die sprachliche Fiber. Schnörkellos und streng geradeaus geleitet er das Paar, das keines werden durfte, durch die Galgenfrist vor dem großen Schuldgericht. Und vielleicht ist das, was die Darstellung wirklichkeitsversehrter Erfahrung schuldet, das einzig wirklich produktive Schuldverhältnis des Romans. Es hat Melle eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis eingebracht. Und egal wie in dieser Sache das Urteil fällt – diese „3000 Euro“ liest man mit Gewinn.