Ott war von Anfang an der führende Kopf in der Buchhandlung, obwohl er keine Ausbildung zum Buchhändler hatte. Als Seiteneinsteiger befand er sich noch in einer „beruflichen Selbstfindungsphase“, wie der ironiebegabte Mann sagt, der zuvor in Tübingen Geografie und Geschichte studiert und nebenbei in Esslingen in einem Bioladen gejobbt hatte. Die sexuelle Selbstfindungsphase indes hatte er schon hinter sich. Coming-out während der Pubertät, schummrige Szenekneipen und schon bald die Erkenntnis, dass man als Schwuler raus ins Licht und offensiv in die Öffentlichkeit dringen muss, um gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten zu kämpfen. Das erforderte Courage. Ott hatte sie und schloss sich der Schwulengruppe Rosa Funke an. Und als 1982 wieder mal eine OB-Wahl anstand und die Aktivisten darin eine Gelegenheit sahen, ihre Forderungen publik zu machen, kam als Kandidat nur der unerschrockene Youngster in Frage. Alle anderen rosafarbenen Funken hätten in ihrem Alltag, sei’s als Ingenieur bei Daimler, sei’s als Lehrer in der Schule, mit Sanktionen bis hin zu Entlassungen rechnen müssen. „Ich gehörte zu denen, die am wenigsten zu verlieren hatten“, sagt der Buchhändler und rollt in seinem Laden das 33 Jahre alte Wahlplakat aus.

 

Vor dem Anarcho-Zeichen des eingekringelten A steht da ein junger, feminin wirkender 25-jähriger Knabe mit Pelzmantel und John-Lennon-Brille. „Eine alberne Aufmachung“ mit einem Kunstpelz, der gejuckt habe, „als wäre man in einen Chemie-Unfall geraten“ – natürlich ist Ott im Wahlkampf als schriller Spaßkandidat aufgetreten. Aber nicht nur. Der Einzige, der die Aufklärungsabsicht hinter dem Weiberfummel erkannt hatte, war der Amtsinhaber Manfred Rommel (CDU). Bei der Kandidatenvorstellung in der Liederhalle ist Ott von fast allen Herren auf dem Podium mit herablassender Verachtung bestraft worden, angefangen von Uli Maurer (SPD) bis hin zu Guntram Ehrlenspiel (Grüne), der sich sogar weigerte, einem Schwulen die Hand zu geben. Rommel aber ist freundlich auf ihn zugekommen und hat ihm Mut zugesprochen: „Jonger Mann, des isch luschdig, was Sie da mache. Und richdig isch es au“ – eine schwäbische Toleranz, die sich für ihn auszahlte. Mit 69,8 Prozent der Stimmen wurde der OB im Amt bestätigt. Ott landete mit 0,2 Prozent auf dem zehnten Platz. Für ihn votierten 476 Stuttgarter. Egal. Das rosa Zeichen war jedenfalls gesetzt.

Dann kam das Jahr 1984 und brachte Aids auch nach Deutschland. In den USA hatte Ronald Reagan die Krankheit dazu genutzt, homophobe Legenden über die „Schwulenseuche“ in die Welt zu setzen. Und während sich die vom tödlichen Virus erschütterte Szene in Angst und Ratlosigkeit wegduckte, machten sich auch hierzulande Lügen und Halbwahrheiten breit. „Das konnte so nicht bleiben. Wir mussten reagieren und dafür sorgen, dass nicht mehr nur über uns geredet wurde, sondern dass wir endlich auch selber redeten“, erinnert sich Ott, der in dieser bedrückenden Lage zusammen mit Freunden die Stuttgarter Aids-Hilfe ins Leben rief. In den ersten Monaten diente ihnen der „Erlkönig“ als Versammlungsort, aber nachdem sich das HI-Virus immer weiter ausbreitete, wurde auch die Stadt aktiv und siedelte die Selbsthilfegruppe beim Gesundheitsamt an. Zahlreiche Wegbegleiter von Ott sind an der Krankheit gestorben, darunter zwei aus dem Kollektiv des „Jenseitz“.

Sein Kampf ist noch nicht abgeschlossen

Doch trotz Aids, trotz den Aids-Toten und trotz dem Attentat, das ihn fürs Leben gezeichnet hat: der Buchhändler ist auch heute noch auf dem Posten. Er ist nicht nur eine Ikone, sondern auch ein Pionier der hiesigen Schwulenbewegung. Als hellwacher Zeitzeuge ist er jüngst von den Historikern des neuen Stadtmuseums vernommen worden, die der Emanzipationsgeschichte der Stuttgarter Homosexuellen einen eigenen Raum widmen wollen. Ein Zeichen der Anerkennung, über das sich Ott freut, auch wenn er den Kampf für sexuelle Minderheiten noch längst nicht als museal abgeschlossen betrachtet. Dass heute wieder Tausende von Menschen auf die Straße gehen, um gegen eine aufgeklärte Gender-Politik zu demonstrieren, erstaunt ihn sehr. Mit einem Rückfall in homophobe Zeiten rechnet er aber nicht, dazu seien die zivilisatorischen Standards zu weit vorangetrieben worden – nicht zuletzt eben von jener Bewegung, für die er sich ohne Wut und Eifer, aber mit Mut und Beharrlichkeit seit Jahrzehnten engagiert.

Ein Ziel aber, sagt Ott, hätten die Schwulen von damals nicht erreicht. Auch wenn Homosexuelle heute weitgehend gleichberechtigt seien, hätte er sich doch noch etwas anderes und etwas mehr gewünscht. „Wir träumten davon, im Zuge der Gleichberechtigung die Heteros und die Gesellschaft mit zu verändern. Dass Schwule heiraten sollen, darauf wären wir nie im Leben gekommen.“ Bürgerliche Werte konnten er und seine Genossen also nicht außer Kraft setzen. Der Kampf des „Erlkönigs“ und seines Inhabers geht wohl noch weiter.

Überlebender des schwulen Buchladensterbens

Davon gibt es in Deutschland nicht mehr viele. Um genau zu sein: zwei von einstmals fünf. Der einzige noch existierende Bruder des „Erlkönigs“ heißt „Eisenherz“ und macht seine Geschäfte in Berlin. Die beiden sind die letzten Überlebenden des schwulen Buchladensterbens der vergangenen Jahre, zu dem es womöglich ja auch gekommen ist, weil man – ketzerischer Gedanke – in toleranteren Zeiten wie heute schwule Buchläden einfach nicht mehr braucht. Die Gesellschaft hat dazugelernt und grenzt männliche und weibliche Homosexuelle nicht mehr aus. Längst sind sie Lehrer und Politiker geworden, Oberbürgermeister und Minister, die am Kabinettstisch von Angela Merkel sitzen. Warum sollte man ihre Literatur noch ausgrenzen und in eigene Orte auslagern? Sind schwule Buchhandlungen nicht Opfer ihres Erfolgs geworden?

In der Tat sind die Läden in den siebziger, achtziger Jahren aus emanzipatorischen Gründen eröffnet worden. Wenn man das Ziel erreicht habe, brauche man sie nicht mehr, hieß es damals. Inzwischen sieht Ott das anders. Sein „Erlkönig“ sei kein Relikt aus finsteren Tagen, sondern schlichtweg eine moderne Fachbuchhandlung, nicht anders als ein Kinder- oder Frauenbuchladen auch. Sieht man vom „Eisenherz“ in Berlin ab, erkennt man in seinem schwulen Buchladen gar ein Stuttgarter Alleinstellungsmerkmal – wobei Ott heute mit einem erweiterten Schwulenbegriff arbeitet. Im Zeitalter der Debatten übers biologische und soziale Geschlecht biete sein Geschäft generell „Medien für sexuelle Minderheiten“ an, sagt er, real im Laden, virtuell im ebenfalls liebevoll gestalteten Online-Shop. Und gratis dazu: die ausgewiesene Expertise des Buchhändlers. Es gibt wohl kaum einen anderen Kollegen, der seine Kundschaft über den Stand der Gender-Dinge so kenntnisreich aufklären kann wie der Herr in der Nesenbachstraße.

Aufklärung im weitesten Sinne ist schon immer das Lebensthema des 1957 in Hannover geborenen, später mit seinen Eltern – alter anthroposophischer Adel – nach Stuttgart gezogenen Ott gewesen. Ein Akt der Aufklärung war auch schon die Eröffnung des „Erlkönigs“ an sich, 1983 gemeinsam mit dem ersten Stuttgarter Schwulencafé, dem von einem Kollektiv geführten „Jenseitz“. Das war in einer Zeit, als man auch in Stuttgart gegen Atomkraft und Aufrüstung protestierte, als man Häuser besetzte und neue Wohn- und Lebensformen ausprobierte. „Die Schwulenbewegung war Teil dieser sozialen Bewegungen. Sie alle hatten einen starken Sponti-Charakter und waren weniger an linker Theorie als an konkreter Aktion interessiert.“ Zu diesen praxisorientierten Unternehmungen des auch in der Landeshauptstadt hocherregten politischen Aufbruchs gehörte nun diese neue, für viele Heteros provokative Doppelgründung in der Bebelstraße. „Jenseitz“ und „Erlkönig“ lagen nebeneinander in einer Erdgeschosszeile und lebten auch finanziell in einer Symbiose: Die Überschüsse des Cafés deckten die Defizite des Buchladens.

Ott und die rosaroten Funken

Ott war von Anfang an der führende Kopf in der Buchhandlung, obwohl er keine Ausbildung zum Buchhändler hatte. Als Seiteneinsteiger befand er sich noch in einer „beruflichen Selbstfindungsphase“, wie der ironiebegabte Mann sagt, der zuvor in Tübingen Geografie und Geschichte studiert und nebenbei in Esslingen in einem Bioladen gejobbt hatte. Die sexuelle Selbstfindungsphase indes hatte er schon hinter sich. Coming-out während der Pubertät, schummrige Szenekneipen und schon bald die Erkenntnis, dass man als Schwuler raus ins Licht und offensiv in die Öffentlichkeit dringen muss, um gegen die Diskriminierung sexueller Minderheiten zu kämpfen. Das erforderte Courage. Ott hatte sie und schloss sich der Schwulengruppe Rosa Funke an. Und als 1982 wieder mal eine OB-Wahl anstand und die Aktivisten darin eine Gelegenheit sahen, ihre Forderungen publik zu machen, kam als Kandidat nur der unerschrockene Youngster in Frage. Alle anderen rosafarbenen Funken hätten in ihrem Alltag, sei’s als Ingenieur bei Daimler, sei’s als Lehrer in der Schule, mit Sanktionen bis hin zu Entlassungen rechnen müssen. „Ich gehörte zu denen, die am wenigsten zu verlieren hatten“, sagt der Buchhändler und rollt in seinem Laden das 33 Jahre alte Wahlplakat aus.

Vor dem Anarcho-Zeichen des eingekringelten A steht da ein junger, feminin wirkender 25-jähriger Knabe mit Pelzmantel und John-Lennon-Brille. „Eine alberne Aufmachung“ mit einem Kunstpelz, der gejuckt habe, „als wäre man in einen Chemie-Unfall geraten“ – natürlich ist Ott im Wahlkampf als schriller Spaßkandidat aufgetreten. Aber nicht nur. Der Einzige, der die Aufklärungsabsicht hinter dem Weiberfummel erkannt hatte, war der Amtsinhaber Manfred Rommel (CDU). Bei der Kandidatenvorstellung in der Liederhalle ist Ott von fast allen Herren auf dem Podium mit herablassender Verachtung bestraft worden, angefangen von Uli Maurer (SPD) bis hin zu Guntram Ehrlenspiel (Grüne), der sich sogar weigerte, einem Schwulen die Hand zu geben. Rommel aber ist freundlich auf ihn zugekommen und hat ihm Mut zugesprochen: „Jonger Mann, des isch luschdig, was Sie da mache. Und richdig isch es au“ – eine schwäbische Toleranz, die sich für ihn auszahlte. Mit 69,8 Prozent der Stimmen wurde der OB im Amt bestätigt. Ott landete mit 0,2 Prozent auf dem zehnten Platz. Für ihn votierten 476 Stuttgarter. Egal. Das rosa Zeichen war jedenfalls gesetzt.

Dann kam das Jahr 1984 und brachte Aids auch nach Deutschland. In den USA hatte Ronald Reagan die Krankheit dazu genutzt, homophobe Legenden über die „Schwulenseuche“ in die Welt zu setzen. Und während sich die vom tödlichen Virus erschütterte Szene in Angst und Ratlosigkeit wegduckte, machten sich auch hierzulande Lügen und Halbwahrheiten breit. „Das konnte so nicht bleiben. Wir mussten reagieren und dafür sorgen, dass nicht mehr nur über uns geredet wurde, sondern dass wir endlich auch selber redeten“, erinnert sich Ott, der in dieser bedrückenden Lage zusammen mit Freunden die Stuttgarter Aids-Hilfe ins Leben rief. In den ersten Monaten diente ihnen der „Erlkönig“ als Versammlungsort, aber nachdem sich das HI-Virus immer weiter ausbreitete, wurde auch die Stadt aktiv und siedelte die Selbsthilfegruppe beim Gesundheitsamt an. Zahlreiche Wegbegleiter von Ott sind an der Krankheit gestorben, darunter zwei aus dem Kollektiv des „Jenseitz“.

Sein Kampf ist noch nicht abgeschlossen

Doch trotz Aids, trotz den Aids-Toten und trotz dem Attentat, das ihn fürs Leben gezeichnet hat: der Buchhändler ist auch heute noch auf dem Posten. Er ist nicht nur eine Ikone, sondern auch ein Pionier der hiesigen Schwulenbewegung. Als hellwacher Zeitzeuge ist er jüngst von den Historikern des neuen Stadtmuseums vernommen worden, die der Emanzipationsgeschichte der Stuttgarter Homosexuellen einen eigenen Raum widmen wollen. Ein Zeichen der Anerkennung, über das sich Ott freut, auch wenn er den Kampf für sexuelle Minderheiten noch längst nicht als museal abgeschlossen betrachtet. Dass heute wieder Tausende von Menschen auf die Straße gehen, um gegen eine aufgeklärte Gender-Politik zu demonstrieren, erstaunt ihn sehr. Mit einem Rückfall in homophobe Zeiten rechnet er aber nicht, dazu seien die zivilisatorischen Standards zu weit vorangetrieben worden – nicht zuletzt eben von jener Bewegung, für die er sich ohne Wut und Eifer, aber mit Mut und Beharrlichkeit seit Jahrzehnten engagiert.

Ein Ziel aber, sagt Ott, hätten die Schwulen von damals nicht erreicht. Auch wenn Homosexuelle heute weitgehend gleichberechtigt seien, hätte er sich doch noch etwas anderes und etwas mehr gewünscht. „Wir träumten davon, im Zuge der Gleichberechtigung die Heteros und die Gesellschaft mit zu verändern. Dass Schwule heiraten sollen, darauf wären wir nie im Leben gekommen.“ Bürgerliche Werte konnten er und seine Genossen also nicht außer Kraft setzen. Der Kampf des „Erlkönigs“ und seines Inhabers geht wohl noch weiter.

PS: Ott ist nicht verheiratet, lebt aber seit 38 Jahren mit demselben Freund zusammen. „De facto spießig“, wie er sagt.