Sechs Jahre nach seinem Rückzug von den klassischen Konzertbühnen geht es dem Bassbariton Thomas Quasthoff besser denn je – und er denkt nicht im Traum an den Rücktritt vom Rücktritt.

Berlin - Thomas Quasthoff geht es besser den je. Sechs Jahre ist es her, dass er sich von den klassischen Konzertbühnen verabschiedet hat. Heute signiert er aber immer noch Autogrammkarten:

 
Puh, was für eine Arbeit. Ich weiß gar nicht, warum sich die Leute für so etwas wie ein Autogramm interessieren.
Immer noch besser als Selfies, oder?
Oh ja, da sagen Sie was. Selfies muss ich zum Glück nie machen. Das ist so ziemlich der einzige Vorteil meiner Behinderung (lacht).
Die Sonne scheint, der Frühling ist da, wir sitzen draußen. Ist Ihr Befinden entsprechend?
Mir geht es ganz hervorragend. Ich bin fröhlich, entspannt und nach einer anstrengenden, aber großartigen Russlandtournee wieder zu Kräften gekommen.
Was haben Sie gespielt in Russland?
Jazz natürlich! Ich mache ja nichts anderes mehr. Die Klassikwelt hat mich verloren (lacht). Jazz macht mir unheimlich viel Spaß, und ich habe ein wirklich tolles Trio. In meiner Band bin ich quasi der kleine Junge, der Lernende.
„Nice ’n’ easy“ heißt Ihr neues Album.
Der Titel ist Programm. Die Stimmung, die das Album abbildet, ist eine wunderbar entspannte und gelöste. Mir war wichtig, dass die Platte wirklich nach Jazz klingt und nicht nach Crossover. Ich bin sehr stolz, dass ich mit Jörg Achim Keller von der NDR Bigband so einen sensationellen Arrangeur gewinnen konnte. Weder er noch ich hätten diese Aufnahme gemacht, wenn es so ein Crossover-Ding geworden wäre. Aber so hat er gleich zugesagt. Wir kennen uns von einem gemeinsamen Konzert mit der NDR Bigband und mochten uns auf Anhieb.
Sie haben 2006 ihr erstes Jazzalbum veröffentlicht, 2010 das zweite und jetzt „Nice ’n’ easy“. Woher kommt Ihre Liebe zum Jazz?
Von meinem Bruder Michael. Der war zwei Jahre älter als ich und in seinem Geschmack auch immer zwei Jahre weiter. Ich hatte seit meinem 13. Lebensjahr klassischen Gesangsunterricht, meine Eltern haben mich sehr gefördert und unterstützt, und ich hörte eigentlich alles. Als mein Bruder Jazz entdeckte, fand ich das direkt cool. Charlie Parker, John Coltrane – ich habe richtig Hardcorejazz gehört.
Warum haben Sie selbst mit Jazz angefangen?
Weil es mir Spaß macht. Die Erklärung ist wirklich simpel. Des Geldes wegen macht man Jazz ja nicht (lacht). „Nice ’n’ easy“ ist allerdings ein Album geworden, das breit aufgestellt ist. Viele Leute hören diese Musik gerne, jüngere wie ältere. Ich mache Mainstream, dazu stehe ich.
Sie singen auch John Lennons „Imagine“, das aus dem übrigen Programm heraussticht.
Das stimmt. „Imagine“ ist das einzige Stück auf der Platte, das ich schon oft gesungen habe. Ich liebe es. Überhaupt, die Beatles.
„Imagine“ ist ein Friedensappell.
Auch deshalb habe ich das Lied mit auf die Platte genommen. Kitschnummer hin oder her, das Lied berührt die Leute überall auf der Welt. Wir Menschen brauchen Hoffnung. Dieses Säbelrasseln von Trump, Putin und anderen, hilft nicht weiter. Politik sollte immer deeskalierend sein. Trump ist ein Idiot, und Putin ist in keinster Weise besser. Jemanden wie Assad zu unterstützen, der sein eigenes Volk plattmacht, das ist für mich unfassbar. Trotzdem halte ich die Sanktionspolitik gegenüber Russland für falsch.
Sind Sie Mitglied einer Partei?
Ich? Um Gottes Willen, nein! Ich lasse mich vor keinen politischen Karren spannen. Die Partei, von der ich Mitglied sein wollte, die müsste man auch erst noch gründen. Sagen wir so: Konservativ bin ich ganz sicher nicht.
Wie bekommt man die Menschen wieder zusammen?
Indem man die Politik auf der Bühne weglässt – und die Leute durch Musik berührt. Ich sehe ja, dass das funktioniert.
Sie konnten überhaupt nichts anderes werden als Sänger, oder?
Seriös muss man klar sagen: Wenn Sie so eine schwere Behinderung haben wie ich, dann liegt dieser Beruf nicht unbedingt offen auf dem Tisch. Musik hat ja doch relativ viel mit einer oberflächlichen Ästhetik zu tun, und ich glaube schon, dass eine Helene Fischer auch deshalb so viel Erfolg hat, weil sie ganz hübsch anzusehen ist.
Die macht doch ganz andere Musik als Sie.
Trotzdem. Ich glaube auch, dass ein Till Brönner mehr CDs verkauft, weil er so aussieht, wie er aussieht. Ich gönne ihm das freilich von Herzen, Till ist ein feiner Bengel.
Brönner würde vermutlich protestieren, wenn man ihm das sagt . . .
Na ja, wollen wir ehrlich sein: Er kokettiert auch mit seinem Aussehen. Ist auch in Ordnung. Würde ich so aussehen wie er, würde ich vielleicht auch damit kokettieren. Ist ja nicht schlimm. Jedenfalls – ich musste also überlegen: Kann das überhaupt klappen? Ich merkte, dass die Behinderung wohl doch nicht so eine große Rolle spielte, als ich 1988 den Internationalen Musikwettbewerb der ARD gewann. Letztlich zählt das, was du kannst. Die haben mir diesen Preis ja nicht gegeben, weil ich ein bisschen über die Bühne gewackelt bin, sondern weil ich besser gesungen habe als die anderen. Mittlerweile bin ich seit 43 Jahren in diesem Beruf, mit 15 gab ich damals mein erstes bezahltes Konzert. So lange hältst du dich sicher nicht, weil du einen Behindertenbonus hast, sondern weil du wirklich was kannst.
2012 verkündeten Sie ihren Rücktritt als klassischer Sänger. Was war damals der Grund?
Mein Bruder erkrankte an Krebs. Er klagte über Rückenschmerzen, irgendwann ging er doch ins Krankenhaus, aber da war die Krankheit schon zu weit fortgeschritten, als dass noch Hoffnung bestanden hätte. Der Oberarzt war ein Schulfreund von mir, er sagte mir, wie ernst es um meinen Bruder stand. Zwei Tage nach dieser Diagnose war meine Stimme weg. Das Schlimme war: Es ließ sich körperlich nichts feststellen. Das kam alles vom Kopf. Mein Bruder und ich, wir hatten immer ein sehr, sehr enges, außergewöhnlich gutes Geschwisterverhältnis, wir waren uns emotional sehr nahe.
Wie ging es weiter?
In der klassischen Musik wird lange im Voraus geplant, ich wollte nicht immer absagen, und ich konnte auch die Frage „Was meinst du, wann es wieder geht?“ nicht mehr hören. Ich wusste es nicht. Vielleicht würde ich auch nie wieder singen können, niemand konnte es sagen. Dann gab es für mich nur noch die eine Konsequenz: Ich höre mit der Klassik auf. Mein Inneres war schon länger nicht mehr hundertprozentig dabei. Meine Psyche und mein Körper hatten mir wohl zu verstehen gegeben: „Es ist jetzt gut.“ Ich war dann einige Jahre lang nur noch Professor an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, das war in Ordnung für mich.
Und dann kam die Stimme plötzlich zurück.
Plötzlich nicht, sondern langsam. Ich glaube, die Zeit heilt tatsächlich Wunden.
Den Rücktritt vom Rücktritt als klassischer Sänger wird es trotzdem nicht geben?
Nein. Dazu bin ich zu konsequent. In der Klassik habe ich alles erreicht; die Entscheidung, aufzuhören, habe ich nie hinterfragt. Ich genieße mein neues Leben als Jazzsänger sehr. Der Jazz ist jetzt meine Welt.