Im milden Weinbauklima des Remstals fühlen sich Tiere wohl, die es sonst nicht überall in Deutschland gibt – dafür eher im Mittelmeerraum. Das Weinhähnchen (Oecanthus pellucens) ist ein solcher Kandidat.

Fellbach - Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu, und manch eine Familie wäre dieses Jahr gerne nach Italien, Frankreich oder Spanien gefahren, um südliches Flair zu genießen. Doch daraus wurde aus bekannten Gründen meist nichts. Auch wenn Fellbach kein Meer zu bieten hat, so dürfte das mit dem südlichen Flair kein Problem sein, zumindest, was die akustische Stimmung bei Nacht anbetrifft.

 

Wenn es dunkel ist, kann man in der Toskana, der Provence oder in Andalusien einen typischen, eindringlichen Ton vernehmen: ein weicher, aber lautstarker Gesang, der in etwa wie „drüüü-drüüü-drüüü“ klingt und ausdauernd ertönt. Die Silben folgen etwa im Sekundentakt aufeinander und sind bei entsprechenden Bedingungen fast die gesamte Nacht über zu hören.

Das kleine, nur etwa eineinhalb Zentimeter große Insekt heißt Weinhähnchen

Zu Gesicht bekommt man den tierischen Urheber daher so gut wie gar nie. Nur bei gezielter Suche mit der Taschenlampe kann man mit etwas Glück und Geschick den nächtlichen Musikanten erblicken. Der Gesang, der über mehrere hundert Meter zu vernehmen ist, lässt sich in der Nähe dagegen gar nicht so einfach orten, weil sich die Tiere immer wieder hin und her drehen. Dadurch scheint es, dass die Töne dann jeweils aus einer anderen Richtung kommen.

Und wenn man es doch geschafft hat, ist man verblüfft: Das sitzt nicht etwa eine riesige Heuschrecke im Gebüsch und erzeugt diese imposante Geräuschkulisse. Nein, da hockt dann ein ganz unscheinbares Tierchen, das eher wie eine Bernsteinschabe oder eine Wanze aussieht. Das kleine, nur etwa eineinhalb Zentimeter große Insekt heißt Weinhähnchen und hat mit einem „Coq au vin“ nichts zu tun, sondern gehört innerhalb der Familie der Grillen zu Unterfamilie der Blütengrillen. In Deutschland ist es der einzige Vertreter dieser unscheinbar aussehenden Heuschrecken. Im Unterschied zu anderen Grillen ist das Weinhähnchen eher schlank gebaut und nicht dunkel, sondern hellbeige bis bräunlich, manchmal sogar ins Gelbliche gehend. Die dünnen Fühler sind deutlich länger als der gesamte Körper, die glasartig durchscheinenden Flügel überragen den Hinterleib.

Das Weibchen platziert die Eier mit dem Legebohrer ins weiche Mark

Diese Flügel sind es auch, mit denen das Männchen den Gesang, den man bei Heuschrecken auch Stridulation nennt, erzeugt. Dabei reibt es nicht wie ein Grashüpfer die Beine, sondern die Vorderflügel aneinander. Diese werden gleichzeitig so gehalten, dass sie wie ein Schalltrichter wirken und den Klang verstärken – wie bei einem Lautsprecher oder einem Megafon. So verfehlt der nächtliche Werbegesang seine Wirkung nicht und kann auf große Distanzen ein Weibchen anlocken. Dieses legt nach erfolgreicher Paarung die Eier mit dem Legebohrer, in der Fachsprache Ovipositor genannt, in Pflanzenstängeln ab. Bevorzugt werden dazu Gewächse mit markhaltigen Stängeln, beispielsweise Goldrute, Steinklee oder Königskerze.

Das Weibchen platziert die Eier mit dem Legebohrer ins weiche Mark, nachdem es zuvor kleine Löcher in das umgebende Festigungsgewebe herausgebissen hat. Danach verschließt es alles mit einem Pfropf. Es werden meist mehrere Eier in einer ordentlichen Reihe untereinander abgelegt, sodass sich ein charakteristisches Eiablagemuster ergibt. Die Larven schlüpfen erst im Sommer des folgenden Jahres, womit wieder einmal deutlich wird, wie wichtig es ist, dass nicht alle Grünflächen komplett abgeräumt werden. Auf diese Weise haben viele Tiere, deren Eier, Larven oder Puppen irgendwo in der Vegetation verborgen sind, keine Überlebenschance. Die nächste Generation gibt es dann oft einfach gar nicht.

Das Weinhähnchen fühlt sich in den sonnigen Lagen am Kappelberg wohl

Zum Glück finden sich rund um dem Kappelberg ein paar wenige Ecken, in denen sich diese Art erfolgreich vermehren kann. Das ist gar nicht so selbstverständlich, denn östlich der Rheinebene gibt es nicht allzu viele Gebiete in Deutschland, in denen das Weinhähnchen überhaupt vorkommt. Es bevorzugt solche Gegenden, in denen es warm und trocken ist, mediterran eben. In den sonnigen Lagen am Kappelberg fühlt es sich wohl. Dort leben die gut getarnten kleinen Heuschrecken in Bereichen mit genügend grasiger und krautiger Vegetation. Die Larven bleiben eher unten im Gras, die ausgewachsenen Tiere gehen in der Kraut- und Strauchschicht höher. Deshalb heißen sie auch im Englischen „Tree-cricket“, also „Baumgrille“. Tagsüber verstecken sie sich mit zusammengelegten Flügeln, oft an der Unterseite von Blättern oder in den Blütendolden der Wilden Möhre. Geeignete Habitate finden sich eher an den Rändern der Rebzeilen oder in solchen mit entsprechender Begrünung, vor allem aber rund um das Naturdenkmal Pfeiferhalde mitten im Weinbaugebiet. Auch die Schutzgebietsflächen oberhalb der Reblagen, die Steppenheide am Vorderen Berg und das Naturschutzgebiet am Hinteren Berg bieten gute Bedingungen.

Trotz des Namens hat das Weinhähnchen und seiner Vorliebe für die Weinbaugegenden sonst eigentlich nichts mit dem Wein selbst am Hut. Es interessiert sich nicht näher für die Weinreben, sitzt allenfalls mal nachts auf einem Rebstock und zirpt von dort aus.

Steckbrief

Das unscheinbare, aber unverkennbare Weinhähnchen ist blass gefärbt, hellbräunlich oder ockerfarben bis strohgelb. Auf der Oberseite und den Hinterschenkeln sind meist dunkle Flecken. Der Körper, der wenig wie eine Heuschrecke wirkt, ist schlank, lang und relativ flach. Der schmale Kopf ragt weit nach vorne.

Das vergleichsweise lautstarke Zirpen des Weinhähnchens setzt erst in der Dämmerung ein. Mitten in der Nacht ist die Gesangsaktivität auf dem Höhepunkt. Über eine Entfernung von 300 bis 400 Metern kann man den ausdauernden Gesang noch hören, der eigentlich mit den Lautäußerungen keiner anderen Heuschrecke verwechselt werden kann und zum typischen Klang einer mediterranen Sommernacht gehört.

Weinhähnchen nehmen hauptsächlich weiche Bestandteile von Blüten auf. Die kleinen Tiere ernähren sich aber auch von Blattläusen, Spinnen oder den Larven anderer Insekten.