Die kanadische Stadt Churchill an der Hudson Bay will mit einem Gefängnis renitente Eisbären abschrecken.

Churchill/Kandada - Die Umrisse der grauen Halle an der Hudson Bay, wenige Kilometer außerhalb des Städtchens Churchill, verschwimmen im Schneegestöber. Ein eisiger Wind weht über die Tundra. "Polar Bear Compound - Eisbärgelände" steht auf dem Schild an der Frontseite der Halle. Vor der Halle herrschte emsige Betriebsamkeit. Männer, eingehüllt in Parkas, gestikulieren. Einer trägt ein Gewehr auf dem Rücken. Eine Szene wie aus einem Krimi. Ein Hubschrauber nähert sich und wirbelt Schnee auf. Das große Tor zur Halle wird geöffnet. Aus dem Dunkeln taucht ein Geländefahrzeug mit Anhänger auf. Auf der Ladefläche liegt eine gelbweiße pelzige Fracht: ein Eisbär, betäubt, regungslos.

Die unscheinbare Wellblechhalle in der kanadischen Tundra beherbergt eine weltweit einmalige Einrichtung: das Eisbärengefängnis von Churchill. Jetzt ist die Zeit gekommen, die Tiere freizulassen und auszufliegen. Vier Männer heben die Holzplatte hoch, auf der der Eisbär liegt, und lassen das Tier vorsichtig auf ein Netz rutschen, das im Schnee ausgebreitet ist. Ein paar Handgriffe, dann ist der Bär ins Netz eingewickelt. Schon nähert sich ein zweiter Transport mit einem weiteren Eisbär. Bob Windsor, der Chef der Naturschutzbehörde Manitoba Conservation in Churchill, prüft, ob die Tiere sicher verpackt sind. Er verhakt das Seil, das vom Hubschrauber herabhängt, mit den Netzen und gibt dem Piloten ein Zeichen. Der Hubschrauber steigt langsam auf. Wenig später ist er mit seiner bärigen Fracht am Horizont verschwunden.

Eisbärenhauptstadt der Welt


Churchill, die 800-Einwohner-Stadt in der kanadischen Provinz Manitoba, nennt sich Eisbärenhauptstadt der Welt. Die Bärenpopulation an der westlichen Hudson Bay bei Churchill zählt rund 1000 Tiere. Im Nordpolgebiet gibt es insgesamt 20.000 bis 25.000 Eisbären. Wenn im Sommer die letzten Eisschollen auf der Hudson Bay schmelzen, gehen die Bären bei Churchill an Land und ziehen in die Tundra. Für sie beginnt jetzt eine lange Hungerzeit, denn an Land finden sie kaum Nahrung. Zusätzlich macht ihnen der Klimawandel zu schaffen: Die Zeit, die sie auf Land verbringen müssen, wird immer länger. Dabei verlieren sie an Gewicht, zudem sinkt ihre Reproduktionsrate.

Mit seinem Jeep fährt Andrew Szklaruk von der Naturschutzbehörde auf Patrouille. Er kontrolliert die fünf Lebendfallen für Eisbären am Stadtrand. Wo die Bebauung endet, warnen grüne Schilder Einwohner und Besucher vor dem Betreten: "Stop! Don't walk in this area!" Ein Schotterweg führt auf eine Anhöhe. Szklaruk steuert auf die etwa drei Meter lange zylinderförmige Bärenfalle. Im Auto liegen ein gesichertes Gewehr und eine Pistole, die mit Heulern und Schreckschussmunition bestückt werden kann. "Meist genügen Heuler, um einen Bär wegzujagen", berichtet er. Die silberne Falle leuchtet in der Wintersonne. Bevor Szklaruk aussteigt, beobachtet er das Umfeld. "Wir müssen uns erst vergewissern, dass nicht einer der Jungs hier herumläuft", sagt er. Die Falle ist leer, der Köder - etwas Robbenfleisch - unangetastet.

Die Wochen des Wartens auf bessere Zeiten sind hart für die Bären. Churchill liegt auf dem Wanderweg der hungrigen Tiere. Noch in den 70er Jahren mussten jährlich im Schnitt 20 Bären erschossen werden. Sie kamen auf die Mülldeponie oder in die Stadt und gewöhnten sich an Menschen, so dass von ihnen eine große Gefahr ausging. Das Projekt Polar Bear Alert - Eisbärenalarm - wurde gestartet. Rund um die Stadt wurde eine Zone geschaffen, in der Bären nicht toleriert werden. Die Telefon-Hotline von Polar Bear Alert mit der Nummer 675-BEAR, über die Bären in und nahe der Stadt gemeldet werden können, ist rund um die Uhr besetzt. Pro Saison gehen mehr als 300 Anrufe ein. Fallen wurden aufgestellt. Die Bevölkerung musste lernen, Müll nicht mehr im Freien zu deponieren. Die Deponie wurde 2005 geschlossen und durch eine Müllverbrennungsanlage ersetzt. Jetzt muss nur noch äußerst selten zur Waffe gegriffen werden. Vor vier Jahren erschoss ein Bewohner Churchills einen Eisbär, der in sein Haus eindringen wollte.

Das Eisbärgefängnis bietet Platz für 23 Tiere


"Wir müssen sie verjagen oder aufgreifen, bevor sie in die Stadt kommen", sagt Szklaruk. All dies dient der Abschreckung. "Eisbären sind kluge Tiere. Sie lernen schnell." Das Eisbärengefängnis spielt bei dieser Strategie eine wichtige Rolle. Die Halle, etwa zehn Kilometer östlich des Städtchens, diente früher als Lager für Militärgut. Sie wurde 1980 in das Polar Bear Jail, das Eisbärgefängnis, umgebaut. Dieses kann bis zu 23 Bären in Einzelzellen beherbergen. Im vergangenen Jahr sind dort 60 Tiere festgesetzt worden.

"Wenn wir einen Bären fangen, schleppen wir ihn mitsamt der Falle zum Gefängnis", erläutert Szklaruk. Dort wird er in Einzelhaft genommen und nur mit Schnee gefüttert. "Wir wollen nicht, dass sie uns Menschen oder ihren Zwinger mit Nahrung assoziieren." Die Aufenthaltsdauer ist auf etwa 30 Tage begrenzt. In Ausnahmefällen, vor allem bei "Problembären", die Wiederholungstäter sind, kann es länger sein. Ist die Zeit abgelaufen oder müssen Zellen frei gemacht werden, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen, werden die Bären ausgeflogen. Sobald die Hudson Bay zufriert, werden alle Tiere freigelassen.

Polar Bear Lift, der Abtransport mit dem Hubschrauber, ist ein sorgfältig geplantes Unternehmen. Die Bären werden etwa 50 Kilometer weiter nach Norden geflogen. Während die Männer draußen die Netze auslegen, wird in der Halle der Bär betäubt. Sobald das Tier transportbereit ist, wird der Helikopter herbeidirigiert. Der Pilot muss sich vergewissern, dass an dem Ort, wo das betäubte Tier abgesetzt wird, kein anderer Bär herumstreunt, denn das könnte für den schlafenden Bären tödlich enden. Werden zwei Tiere gleichzeitig ausgeflogen, werden sie an verschiedenen Orten abgesetzt, da sie vielleicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufwachen. Hungrige Bären neigen zu Kannibalismus. Daher ist Vorsicht geboten.

Keine ernsthaften Zwischenfälle seit 1983


Trotz der hundert und mehr Bären, die jährlich verjagt oder gefangen wurden, habe es in den vergangenen Jahren keine ernsthaften Zwischenfälle bei Begegnungen von Mensch und Bär gegeben, stellt die Provinzregierung zufrieden fest. Letztmals tötete 1983 in Churchill ein Eisbär einen Menschen. Nach einem Hotelbrand bediente sich ein Mann unbefugt an der gefüllten Gefriertruhe, die in den Trümmern stand. Mit Fleisch beladen lief er einem Bären über den Weg - und der war stärker.