Lange Zeit war der Luchs in Europa ausgerottet, nun wird er wieder ein fester Bestandteil der Natur. Doch in Deutschland, Tschechien und Österreich verschwinden seit einiger Zeit Raubkatzen. Werden sie geschossen, weil sie Rehe und Hirsche reißen?

Nationalpark Bayerischer Wald - Der Tod kommt blitzschnell. Auf einer Lichtung im Nationalpark Bayerischer Wald äst ein Reh. Es ahnt nichts von den Vorgängen ein paar Meter weiter oben am Hang: Dort schleicht wie ein Schatten eine große Katze mit einem rotbraunen, gefleckten Fell hinter einem umgestürzten Baum talwärts. Dann verschwindet das Tier von der Größe eines Schäferhundes in einer Mulde im Boden, verschmilzt gleich darauf mit einer Gruppe junger Fichten. Keine zwanzig Meter ist der Schatten noch von seinem Opfer entfernt, als plötzlich alles ganz schnell geht.

 

Schlagartig schaltet das Raubtier vom Schleichgang auf Höchstgeschwindigkeit, die mit 60 Kilometern in der Stunde selbst den menschlichen Rekordhalter Usain Bolt alt aussehen lässt. 20 Kilogramm Katze prallen gegen das Reh, spitze Zähne bohren sich in dessen Kehle, und das Leben des Huftiers endet abrupt. Wieder einmal hat der Luchs Beute gemacht. Die meisten Menschen in der Region gönnen den Pinselohren ihre Leibspeise. Jedenfalls zeigen Umfragen, dass der Luchs einer Mehrheit willkommen ist. Daneben aber gibt es wohl auch Neider, die mit krimineller Energie die bisher recht erfolgreiche Rückkehr der Raubkatze sabotieren.

„60 bis 80 Luchse schleichen derzeit durch den Böhmerwald mit den Nationalparks Bayerischer Wald in Deutschland und Šumava in Tschechien sowie den angrenzenden Regionen, die auch weit nach Österreich ragen“, sagt Thomas Engleder vom Luchsprojekt Österreich Nordwest. Das klingt zunächst einmal gut, schließlich waren die Pinselohren in dieser Region seit dem 19. Jahrhundert ausgerottet.

Ein erster Versuch in den 1970er Jahren, Luchse im gerade gegründeten Nationalpark Bayerischer Wald anzusiedeln, scheiterte. Erfolgreicher waren tschechische Naturschützer, die auf der anderen Seite der damals abgeriegelten Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei am 21. Januar 1982 den Luchs Stožec im Nationalpark Šumava auswilderten. Bis 1989 folgten 16 Artgenossen, die alle aus den slowakischen Karpaten stammten. Dort hatten sie in der Natur gelernt, wie man sich an Rehe anschleicht und dass eine Großkatze besser abwärts zur Beute sprinten sollte, um mit mehr Schwung angreifen zu können. Diese Ausbildung trug auch im Nationalpark Šumava Früchte, bald kamen die ersten Jungluchse zur Welt.

Die Raubkatzen beanspruchen ein großes Revier

Ende 1989 fiel in Europa der Eiserne Vorhang und die Grenze wurde zu einem „Grünen Band“, in dem unter der Federführung des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) der Naturschutz Vorrang hat. Die Luchse nutzten die neue Freiheit und schlichen aus Tschechien in die Nachbarländer Deutschland und Österreich. Auch Wildbiologen wie Thomas Engleder in Österreich, Marco Heurich vom Nationalpark Bayerischer Wald und der Universität Freiburg, Urs Breitenmoser von der Universität Bern und Wlodzimierz Jedrzejewski von der Polnischen Akademie der Wissenschaften tauschen seither ihre Ergebnisse über den Alltag der Luchse aus.

Normalerweise pirscht sich ein Luchs möglichst nahe an seine Beute heran, weil er seine Höchstgeschwindigkeit nur kurz durchhält. Er versteckt sich hinter den Wurzeltellern von umgestürzten Bäumen oder aufschießenden Jungpflanzen. In 70 Prozent der Fälle ist die Jagd erfolgreich, wenn der Luchs aus weniger als zwanzig Metern angreift. Wird die Entfernung größer, sinkt die Quote. Merken die intelligenten Katzen dagegen, dass ihre Beute verletzt oder anderweitig geschwächt ist, nehmen sie den Kampf auch auf der Langstrecke auf und verfolgen ihr Opfer schon einmal 200 oder 300 Meter weit.

Seine Beute schleppt der Luchs möglichst in Deckung, um in Ruhe zu fressen. Ist die Raubkatze satt, deckt sie die Reste der Beute mit Ästen, Laub und Gras ab, um Füchse, Wildschweine, Krähen und vor allem Schmeißfliegen fernzuhalten. Am nächsten Tag kommt der Jäger oft zur Beute zurück, um seine Tagesration mit 1,1 bis 2,7 Kilogramm Fleisch zu fressen. Ist von einem Reh nichts mehr übrig, laufen Luchse oft ein paar Kilometer in eine andere Gegend, in der die Beute weniger argwöhnisch und die Jagdchancen daher höher sind. Um Energie zu sparen, nutzen sie Forstwege, Wildwechsel und Wanderwege.

Die Zahl der Luchse geht seit einiger Zeit zurück

Die Beute-Arten sind recht unterschiedlich: In den Nadelwäldern Russlands erwischen Luchse häufig Schneehasen, in den Alpen Gämsen, im Norden Skandinaviens Rentiere. Untersucht Marco Heurich im Bayerischen Wald die Risse von Luchsen, die via Halsbandsender ihre Position verraten, findet er in 79 Prozent aller Fälle erbeutete Rehe und in 17 Prozent Rothirsche sowie ein paar Füchse und kleinere Tiere. Ein Weibchen mit zwei Jungen reißt im Bayerischen Wald jedes Jahr im Durchschnitt 75 Rehe und zwei Hirsche. Ein Männchen wiederum erbeutet im Jahr durchschnittlich 45 Rehe und elf Hirsche, um seinen kräftigeren Körper fit zu halten. In der Schweiz sind die Verhältnisse ähnlich, ergänzt Urs Breitenmoser.

Weil jeder Luchs ein Revier beansprucht, in dem er oft den Standort wechselt, brauchen die großen Katzen viel Platz. „Rund hundert Quadratkilometer hat ein Streifgebiet normalerweise, kann aber mit 500 Quadratkilometern auch größer als die Stadtfläche von Wien sein“, sagt Thomas Engleder. Da ein Weibchen zwei Junge im Jahr großziehen kann, steigt die Zahl der Luchse selbst dann, wenn viele Jungtiere sterben. Der gerade einmal 680 Quadratkilometer große Nationalpark Šumava war daher bald übervölkert. Junge Luchse wandern in solchen Situationen vom Revier der Mutter so lange weiter, bis sie ein eigenes Zuhause finden. Auf diese Weise besiedelten die Luchse im Böhmerwald bald auch Gebiete außerhalb des Nationalparks Šumava, schlichen durch den Bayerischen Wald und durch das Mühlviertel in Österreich.

Rund hundert erwachsene Pinselohren gab es bereits 1995 in diesem Gebiet. Der Luchs schien auf einem guten Weg zu einer langfristig stabilen Population, für die vielleicht 300 Tiere nötig wären. Seither aber sinkt die Zahl der Luchse wieder, was sich mit Verkehrsunfällen und Auswanderung kaum erklären ließ – bis ein Luchs verschwand, der mit einem Halsbandsender ausgerüstet war. Ähnliche Fälle hatte es auch vorher schon gegeben, diesmal aber tauchte der Luchs wieder auf: und das in einer Falle, in der neue Kandidaten für einen Halsbandsender rekrutiert werden sollten. „Offensichtlich hatte ein Streifschuss den dort befestigten Sender zerstört“, erklärt der Direktor des Nationalparks Šumava, Pavel Huberný.

Die Kadaver weisen Schussverletzungen auf

Das ist kein Einzelfall. In Tschechien wurden bisher mindestens 70 Luchse illegal getötet. In Österreich ermittelt eine Sondereinheit der Polizei zurzeit wegen eines illegalen Abschusses eines Luchses. Bei etlichen weiteren Fällen gibt es dagegen bis jetzt keine heiße Spur. In Verdacht aber haben Naturschützer einige wenige Jäger, die anscheinend dem Luchs seine Beute neiden, obwohl die im Vergleich bescheiden ist: Allein in Österreich werden jedes Jahr fast 300 000 Rehe geschossen.

In der Jagdsaison im Oktober und November tauchen immer wieder einsame junge Luchse auf, die in dieser Zeit noch auf ihre Mutter angewiesen sind. Da fällt der Verdacht leicht auf Jäger, die in dieser Zeit viel in ihrem Revier unterwegs sind und dabei wohl auch ab und zu einen Riss der Pinselohren entdecken. Dort können sie dann dem Luchs auflauern, den man sonst praktisch nie zu Gesicht bekommt: „In 20 Forschungsjahren habe ich nur ein einziges Mal einen Luchs in der Natur gesehen“, erinnert sich Thomas Engleder.

Die Täter lassen sich nur schwer ermitteln. Selbst bei spektakulären Fällen wie abgeschnittenen Vorderläufen von zwei getöteten Luchsen, mit denen ein Verbrecher in Niederbayern im Frühjahr Naturschützern wohl seine Macht demonstrieren wollte, tappt die Polizei im Dunkeln. Da die Kadaver der Luchse häufig Schussverletzungen haben, vermutet der Bund für Naturschutz Bayern (BN), dass einige wenige Neider versuchen könnten, den Luchs wieder auszurotten. „Wir fordern daher den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer auf, ähnlich wie in anderen Ländern eine Sonderkommission der Polizei für solche Ermittlungen zu bilden“, sagt der Chef von BN und BUND, Hubert Weiger.