Training, Mobbing, Outing: Die US-Amerikanerin Tillie Walden hat eine harte Zeit hinter sich. Wie aus der Eiskunstläuferin am Ende eine Comiczeichnerin wurde, erzählt sie selbst: in ihrer tollen Graphic Novel „Pirouetten“ – und am 26. November live in der Stuttgarter Stadtbibliothek.

Stuttgart - Wer will schon um vier Uhr morgens aufstehen. Draußen ist es dunkel und kalt. Tillie will das auch nicht. Sie muss aber, auf sie wartet die Eissporthalle. Da drinnen ist es neonhell und kalt. Jeden Tag. Seit sie fünf Jahre alt ist, also schon zwölf Jahre lang. Sie steht auf, trainiert im Einzelkurs Pirouetten und Gleiten, fällt schlapp auf die Schulbank und muss abends wieder dahin, wo es nach „Eishockey-Schweiß und künstlicher Kälte“ riecht – Synchrotraining. „Pirouetten“ hat die US-Amerikanerin Tillie Walden ihren autobiografischen Comic genannt, der sich tatsächlich bis hin zum Schwindel um ihre Teenagerjahre dreht.

 

Eislaufen ist aber gar nicht das Thema. Glatteis wird für die kleine zierliche Tillie bald alles außerhalb der eisigen Sportanlagen: Das Zuhause, das von Liebe kaum warm wird, die Schule, in der sie gemobbt wird (aber nicht, weil sie sich in eine Mitschülerin verliebt), die heimlich gelebte Sexualität, in der sie als Lesbe nur Angst spürt.

Weg wovon und wohin?

Bis in ihr dreizehntes Lebensjahr lässt der Drill, das harte disziplinierte Training, die ständige Kälte Tillie eine Schutzhaut wachsen, die so eng sitzt wie ihr Sportdress, unter den nicht einmal Unterwäsche passt. Walden zeichnet ihre zur frostigen Einsamkeit erstarrte Figur mit so sparsamen und dürren Strichen, so kalt, dass man beim Umblättern manchmal gerne Handschuhe anhätte. Und Tillie dreht sich und dreht sich, „die Schraubenpirouette habe ich immer gehasst. Ich wurde jedes Mal zu schnell und hatte keine Ahnung, was ich dagegen machen sollte“.

Tillie will raus. Ausbrechen. Aber aus was eigentlich? Aus ihrer Haut? Der mit Make-up zugekleisterten Eiskunstlaufwelt? Ihrem Elternhaus? Mit minimalen Mienenspielen, kleinen Gesten und großen Ideen, fängt Walden genau das ein, was Teenager – nicht nur Tillie – wirklich quält: Dass sie keine Antwort auf die Frage haben: Weg wovon und wohin? Keine Richtung, nirgends, nur Pirouetten.

Tröstende Aussichten

Jahr um Jahr, Sturz um Sturz, Niederlage um Niederlage, Unglück um Unglück, sieht Tillie klarer. Sie outet sich als Lesbe, sie schmeißt das Eiskunstlaufen hin, sie wird Comiczeichnerin. Wie lang, schmerzhaft und grausam dieser Weg zur Selbstfindung sein kann, malt Tillie Walden so realistisch aus, dass es für Heranwachsende nur großer Trost sein kann.

Tillie Walden ist am Montag, 26. November, um 19.30 Uhr zu Gast in der Stadtbibliothek Stuttgart.

Tillie Walden: „Pirouetten“. Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt-Verlag, Berlin. 400 Seiten, 29 Euro. Hier geht’s zur Leseprobe.