Tilmann Rammstedt schreibt einen neuen Roman, und jeder, der will, kann im Internet dabei mitlesen und kommentieren. Der Titel des Buchs in progress ist Programm: „Morgen mehr“.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wer schreibt, kennt das: die Angst vor dem Beginn. Bevor das erste Wort gefunden ist, kann der Widerstand ins Unermessliche steigen, dann hilft nur noch Beten, Alkohol oder einfach drauflos zu schreiben. Jemand, der seiner Blockade ganze Romane abgerungen hat, ist der 1975 in Bielefeld geborene Autor Tilman Rammstedt. Für ein Kapitel seines „Kaisers von China“ erhielt er 2008 den Bachmann-Preis, doch eine ausgewachsene Schreibkrise hatte das Erscheinen des Buches im Herbst desselben Jahres hinausgezögert. Bei seinem folgenden Roman, den „Abenteuern meines ehemaligen Bankberaters“, hat Rammstedt die Not der Hervorbringung gleich zum Gegenstand des Erzählens gemacht hat. Darin wendet sich ein vom Erfindungsphlegma geplagter Schriftsteller namens Rammstedt per E-Mail an den Action-Helden Bruce Willis, woraus sich eine abenteuerlich verrückte Geschichte entspinnt, die am Ende den fiktiven Bankberater und den realen Autor aus einer tiefen Lebenskrise befreit.

 

Nun möchte es Rammstedt noch einmal wissen. Und die Art, mit der er sich diesmal zur Produktivität überlisten will, lässt sich an wie eine waghalsige Luftnummer im Zirkus der Literatur. Von seinem neuen Roman existiert bisher nicht mehr als der Arbeitstitel „Morgen mehr“, und die Verheißung, genau dies vom 11. Januar an täglich zu liefern. An diesem Montag nämlich wird Rammstedt losschreiben und zwar unter Kontrolle seiner Leser. Denn „Morgen mehr“ kann abonniert werden. Wer das tut erhält täglich frisch über die Internetseite www.morgen-mehr.de, via WhatsApp oder direkt per E-Mail, was der Autor in seiner Arbeitszeit getrieben hat. Drei Monate lang Schreibdienst, sauber geregelt wie die Woche eines Bankberaters von Montag bis Freitag. Im April soll das Buch fertig sein und einen Monat später überarbeitet und lektoriert bei Hanser erscheinen.

Wie gut, dass Rammstedt gleich auf Seite neun seines letzten Romans Bruce Willis seine Handynummer verraten hat. So kann man ihn am besten selbst fragen, was er sich da eigentlich aufgehalst hat. Wirklich entspannt klingt er kurz vor Beginn seines öffentlichen Exerzitiums nicht. „Ich hatte schon vor Jahren diese Idee, dachte aber nicht, dass das in ein Buch münden müsste.“ Sein Lektor sei die treibende Kraft gewesen und habe die Latte von einer wöchentlichen auf eine tägliche Schreibfrequenz erhöht. Angst, nein Angst habe er keine: „Es wäre doch albern, vor einem Buch Angst zu haben.“ Seine bisherigen Romane habe er ganz ähnlich geschrieben. Nur eben ohne Zeugen.

Verspielt, multimedial, gegenwärtig

Natürlich ist das ein Projekt ganz nach dem Geschmack des Hanser-Verlegers Jo Lendle, der Rammstedt von seinem früheren Verlag Dumont mitgebracht hat: verspielt, multimedial und sehr gegenwärtig. Die Zuschauer, als welche Leser hier in Erscheinung treten, können kommentieren. Inwieweit das in das Buch eingeht, ist noch offen. Interaktiven Projekten gegenüber verhält sich Rammstedt eher kritisch. Ob dieses Live-Schreiben unter Extrembedingungen zu einer offenen Werkstatt werde, entscheide sich im Prozess selbst.

Bei aller Freude an den raffinierten Schikanen des Hervorbringens könnte leicht unter den Tisch fallen, worum es in „Morgen mehr“ gehen soll, dabei müsste das doch die entscheidende Frage sein. Doch die lässt sich so einfach gar nicht beantworten. Aus Probeskizzen hat sich die Idee zu einer Art Zeitreise herauskristallisiert, eine Begegnung des Fortschrittsoptimismus’ der Siebziger mit der Zukunftsskepsis von heute. Ob das aber auch umgesetzt wird, will Rammstedt nicht garantieren. „Wohin die Geschichte geht, weiß ich noch nicht – aber dieses Gefühl hatte ich bei allen meinen Büchern.“ Neu ist, dass es kein Zurück gibt: „Was geschrieben ist, ist geschrieben.“ Ob das der Qualität zuträglich ist, steht freilich auf einem andern Blatt.

Den Wahn, überall in der ersten Reihe dabei sein zu müssen, um in Realzeit miterleben zu können, was noch gar nicht geschieht, mag man für eine Art Ejaculatio praecox des digitalen Zeitalters halten. Doch strenggenommen ist, was Rammstedt vorhat, gar nicht neu. Auch Dostojewski oder Dickens standen als Autoren von Fortsetzungsromanen unter dem Erwartungsdruck ihrer Leser. Während das eine Kapitel schon gedruckt wurde, war häufig das nächste noch gar nicht geschrieben. Vor allem Dostojewski scheint die stimulierende Qualität großen Termindrucks und nackter Panik geschätzt zu haben.

Zwei Seiten täglich

Aber verkehren sich in der Inszenierung des Schreibakts nicht Mittel und Zweck? „In allen meinen Büchern waren die Bedingungen des Erzählens ein Thema“, sagt Rammstedt. „Mich interessiert, wie sich die Form auf eine Geschichte auswirkt.“ Dass solche metafiktionalen Experimente nicht notwendig aus dem Leben herausführen müssen, beweist letztlich dieses Gespräch selbst, schließlich kam es nur über eine im letzten Roman versteckte Telefonnummer zustande.

Zwei Seiten täglich hat sich Rammstedt vorgenommen, mal mehr, mal weniger. „Wenn ich scheitere, dann gehört das eben dazu.“ Und dann sagt er noch einmal: „Es ist doch nur ein Buch, wovor soll ich Angst haben.“ Aus welcher wiederholten Beteuerung jeder seine Rückschlüsse ziehen kann.

Wenn es läuft, dann läuft’s. Goethe zum Beispiel hat seinen „Werther“ 1774 auf einen Rutsch in ein paar Tagen heruntergepinselt. Kein schlechtes Buch ist daraus geworden. Ob Rammstedts kühne Wette auf den Schreibfluss mehr leistet, als seinen popliterarischen Spieltrieb zu befriedigen und der zeitgeistkonformen Experimentierfreude seines Verlegers zu schmeicheln, muss das fertige Buch zeigen. Dazu dann später mehr.