Steven Spielberg holt den Comichelden in die Dreidimensionalität - bleibt aber dem Geist des belgischen Zeichners Hergé letztlich treu.  

Stuttgart - Ich kenne Sie!", sagt ein gutmütig lächelnder Straßenkünstler, der auf einem Flohmarkt seine Staffelei aufgebaut hat. Natürlich kennt auch der Zuschauer diesen jungen Helden, obwohl zunächst nur dessen braune Knickerbockerhosen zu sehen sind. "Ich habe Sie gar nicht schlecht getroffen!", sagt der alte Zeichner nun stolz und präsentiert sein Porträt. Drei Punkte, zwei Kringel, ein Halbkreis - schon hat dieser furchtlose Reporter ein Gesicht. Noch eine blonde Haartolle drauf, und jetzt schaut aus diesem Blatt unverwechselbar Tim heraus, dessen Abenteuer sich in so viele europäische Kindheiten eingeschrieben haben. Gleich wird er auf der großen Leinwand mit seinem Hund Struppi auf Schatzsuche gehen!

 

Auf das Blatt des Zeichners aber, der übrigens aussieht wie der legendäre Tim-und-Struppi-Schöpfer Hergé, wirft der Porträtierte nur einen flüchtigen Blick. Er sieht seinem Abbild zwar ähnlich, ist aber doch aus der flächigen und extrem reduzierten Darstellung der Comics hineingewachsen in die dreidimensionale Welt eines Films. Der ist im sogenannten Motion-Cap-Verfahren inszeniert, Mimik und Bewegungen des Tim-Darstellers Jamie Bell wurden also in eine Computeranimation eingescannt, der Held sieht nun sehr plastisch und auch ein wenig puppenhaft aus, zwar nicht mit detailliert-individuellen Zügen ausgestattet, aber eben doch mit einem "richtigen" Gesicht. Schaut her, ich bin der neue Tim!, so signalisiert diese clevere Sequenz, in der Steven Spielberg den Comics seine Reverenz erweist und gleichzeitig seinen Film-Tim als das neue Original ausgibt.

Der Regisseur erweist seine Reverenz

Als diesem neuen Tim, der auf dem Flohmarkt das Modell eines kanonenbestückten Dreimasters erstanden hat, ein von Kugeln durchsiebter Mann in die Tür fällt, beginnt eine ebenso tempo- wie wendungsreiche Geschichte. Dieser immer sehr ernste Held, der wie ein Junge aussieht und wie ein Erwachsener lebt, wird nun von dem sinistren Sakharin (Daniel Craig) gekidnappt und auf einen Frachter verschleppt. Der aufmerksame, gescheite und stets dienstbereite Struppi aber rast sofort hinterher, springt mal auf ein Feuerwehrauto und rennt dann am Hafen unter verladebereiten Kühen hindurch, was man auch von oben erkennen kann: In der Herde zuckt es nämlich, und zwar jeweils dort, wo der kleine weiße Terrier ein großes Euter streift. Auf dem Schiff wird das komische Potenzial dann noch erweitert um den nach einer Meuterei eingesperrten Captain Haddock (Andy Serkis), dessen Schwarzbartgesicht zuerst durch eine Schnapsflasche hindurch gefilmt ist.

Vorher hat der im Film etwas geschwätzige Tim alles, was gerade passiert, in Selbstgesprächen kommentiert ("Sieh mal einer an!"), respektive so getan, als würde er es Struppi erzählen. Nun bekommt er einen noch weit redseligeren Seemann als Begleiter, der seinen grundsätzlichen Grimm eloquent ventiliert. "Meerechsenschleim und klebriger Makrelenschiet!", so flucht etwa dieser stets nach Alkohol Ausschau haltende oder diesen konsumierende Haddock, und natürlich lässt er auch immer wieder seine längst zum Markenzeichen gewordenen und so nett antiquiert wirkenden "Hunderttausend Höllenhunde!" los. Aber nicht nur verbal, auch visuell ist dieses Abenteuer konsequent in Retrostimmung, die Mode, die Autos oder ein gelbes Wasserflugzeug stammen aus einer Zeit, die sich etwa zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren erstreckt. So sehr Spielberg also auf modernste Technik setzt: er stellt sie letztlich in den Dienst der Nostalgie.

Walt Disney hat nicht zugegriffen

Der berühmten Ligne Claire des Zeichners kann Spielberg sich allerdings nur annähern, für deren scharfe Konturen, schattenlose Körper oder leuchtende Primärfarben findet sich kein filmisches Äquivalent. Was in den Comics so wunderbar funktioniert, es würde in der hyperrealistischen Optik dieses Films bloß steril wirken. Dafür setzt der Regisseur nun voll auf einen Vorteil seines Mediums, nämlich auf die Darstellung von Bewegung, die Hergé mit seinen eleganten Speed-Line-Kringeln nur andeuten konnte. Wenn sich in der Erinnerung von Captain Haddock sein Vorfahre mit dem des Schurken Sakharin eine Seeschlacht mit anschließendem Fechtduell liefert, dann wird das genauso zur opulenten und mit entfesselter "Kamera" gefilmten Raserei wie das Flucht-und-Verfolgungs-Finale, in dem Tim auf dem Motorrad durch eine orientalische Küstenstadt braust, einem Falken hinterher, der drei geheimnisvolle Pergamentstücke in den Klauen hält.

So ist dieser Film, in dem der Regisseur neben dem titelgebenden Comicband auch noch auf andere Tim-und-Struppi-Abenteuer zurückgreift, zu einem robusten Spaß für Kinder und ehemalige Kinder geworden. Auch die Operndiva Bianca Castafiore hat hier einen gläsersprengenden Gastauftritt, der nur Haddock wenig Vergnügen bereitet: Er hält den Gesang erstens für "Radau" und zweitens bald nicht mehr aus. Der Scheich allerdings, der Madame Castafiore engagiert hat, scheint sich zu amüsieren. Aber wie sieht dieser Scheich denn aus? Diese wachen Äuglein hinter der runden Brille, dieser Bart, diese..?! Tatsächlich, da hat sich der Regisseur wohl selbst in diese Geschichte hineingeschmuggelt. Und wenn sein Tim mal abtaucht und nur noch die dreieckig durchs Meer pflügende Haartolle zu sehen ist, darf wohl auch dies als Zitat des Spielberg'schen "Weißen Hais" erkannt werden.

Lange bevor Spielberg sich an diese Adaption machte, hatte übrigens schon einmal ein Amerikaner die Chance. Im Jahr 1948 schickte Hergé sieben seiner Werke an Walt Disney und schlug ihm eine Verfilmung vor. Disney lehnte ab, und so blieb Tim das Schicksal vieler europäischer Kollegen aus Märchen und Sagen erspart: die kulturelle Kolonialisierung. Auch wenn Hergés Held nun wohl in jenen Winkeln der Welt auftaucht, in denen er noch nicht zu sehen war: er tut es nicht als Amerikaner, sondern als Europäer. Denn so selbstbewusst Steven Spielberg seinen Film auch inszeniert hat, seine Adaption erweist sich am Ende doch nicht als feindliche Übernahme, sondern als Aufnahmeantrag in die Welt des genialen Zeichners Hergé. Die Zuschauer sollten ihn unterzeichnen.

Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn. USA, Neuseeland. 2011. 107 Minuten. Regie: Steven Spielberg. Mit Jamie Bell, Andy Serkis, Daniel Craig. Ab 6 Jahren. Cinemaxx Mitte + SI, Metropol, Ufa

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Werkrechte So liebevoll Steven Spielberg die Tim-und-Struppi-Welt auch nachstellt: er hat die Comics erst gelesen, als in französischen Kritiken zu seinem ersten „Indiana Jones“-Abenteuer immer wieder Vergleiche mit „Tintin“ (so heißt das Original) auftauchten. Dann hat Spielberg allerdings schnell Hergé angerufen und nach dessen Tod im Jahr 1983 von seiner Witwe die Verfilmungsrechte gekauft. Dass die Realisierung so lange dauerte, hing angeblich mit weiteren Projekten, Drehbuchproblemen und zunächst noch mangelhafter technischer Möglichkeiten zusammen.

Co-Produzent Zunächst wollte Spielberg von seinem Kollegen Peter Jackson („Herr der Ringe“) nur einen Rat, wie denn Struppi zu animieren wäre. Dann stellte sich heraus, dass der Neuseeländer seit seiner Kindheit ein Hergé-Fan ist. Peter Jackson hat Spielbergs Film mitproduziert, sollte es eine Tim-und-Struppi-Fortsetzung geben – und das wird am Ende mehr als nur angedeutet –, soll er auch die Regie übernehmen.