Dimitrij Ovtcharov wird im Januar wohl die Spitze der Weltrangliste erklimmen. Mit Timo Boll dominiert er zurzeit die Szene, während die Chinesen schwächeln.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Die Tischtennis-Weltrangliste ist ein komplexes Konstrukt. Monat für Monat spuckt der Rechner des Tischtennis-Weltverbandes ITTF irgendwelche Zahlenkolonnen in nicht immer nachvollziehbarer Ordnung aus. Die Arithmetik dieses Rankings ist eines der größten Mysterien im Tischtennis. Wer warum wo steht, weiß oft keiner. Die Enigma unter den Weltranglisten. Der einzige Spieler, der sie begreift, ist Dimitrij Ovtcharov. Der Deutsche weiß stets, was welcher Sieg über welchen Spieler wem wo was bringt und wo er künftig in der Rangliste steht.

 

Da er aber damit ziemlich alleine war, wird das System jetzt zum Januar-Ranking modifiziert – und in seinem Fall ist es jetzt sogar ganz einfach. Beim Final-Turnier der World Tour, das am Donnerstag beginnt, reicht ihm ein Sieg in Runde eins, um im Januar die neue Nummer eins der Welt zu sein. Kaum vorstellbar, dass er daran scheiter. Er ist aber kein Reformgewinnler, sondern die Spitze würde nur den Status quo untermauern: Ovtcharov ist aktuell der beste Tischtennisspieler der Welt.

Sieben Turniere hat der 29-Jährige in diesem Jahr gewonnen, darunter den prestigeträchtigen World Cup, die China Open und die German Open – je mit Finalsiegen über Timo Boll. Seit Juni dominieren die beiden die Tischtennis-Welt und haben die Supermacht China mehrfach düpiert. „In letzter Zeit wird’s doch eher langweilig“, hat Bundestrainer Jörg Roßkopf unlängst gescherzt. Das Duo spielt so stark, dass sogar im nächsten Jahr der Mannschafts-WM-Titel denkbar scheint – was vor wenigen Monaten angesichts Chinas unglaublicher Dominanz so wahrscheinlich erschien wie aktuell der Klassenverbleib des 1. FC Köln.

Erleben wir eine Zeitenwende am Tisch? Zumindest eine Phase des Umbruchs. China hat den Kopf verloren. Die Trainergarde um Mastermind Liu Guoliang fiel im Juni internen Umstrukturierungen zum Opfer, es gibt unzählige Gerüchte und teils abenteuerliche Verschwörungstheorien über die Hintergründe. Nichts Genaues weiß man aber nicht. Aus Protest boykottierten die Topstars um Ma Long die China Open und sorgten damals für einen nie da gewesenen Eklat im Tischtennis.

In der Folge verloren Chinas Stars auf einmal, Ma Long zum Beispiel gegen Timo Boll und Fan Zhendong gegen Dimitrij Ovtcharov. „Man hatte immer so ein bisschen im Hinterkopf, dass Ma Long und Fan Zhendong unbesiegbar sind“, sagt Ovtcharov. Jetzt nicht mehr. Sie sind immer noch stark und schwer zu schlagen, aber sie haben ihren Nimbus verloren, und mit jedem Sieg wächst wiederum bei Ovtcharov und Co. das Vertrauen in die eigene Stärke. „Die Chinesen wackeln“, sagt Ovtcharov.

Für den Rechtshänder wäre die Nummer eins der Höhepunkt seiner Karriere, die oft im Schatten des Timo Boll stand. Wo der beste Deutsche der Geschichte spielt, ist wenig Raum für den zweitbesten. Doch Ovtcharov hat damit kein Problem, die beiden sind Kumpels. „Die Leute mögen mich auch, aber Timo ist einfach noch bliebeter. Wie Roger Federer oder so. Das ist vollkommen okay“, sagt der 29-Jährige. Sportlich ist Ovtcharov längst aus dem Schatten getreten, er war 2013 und 2015 Europameister, in der Weltrangliste zog er vorbei.

Ovhcharov ist ein Schwamm. So beschreiben ihn die Trainer. Einer, der alles in sich aufsaugt. Einer, der alles wissen will und in die Tiefen dieses komplexen Sports eintaucht. Einer, der die DNA des Tischtennis entschlüsseln möchte und beim Frühstück Youtube-Videos der Gegner auf dem Smartphone studiert. Er führt akribisch Buch über seine Spiele und macht sich Notizen nach wichtigen Begegnungen. Ein Schwamm. Voller Wissen, Zahlen, Fakten.

Sein Vater Mikhail war sowjetischer Nationalspieler, seine Mutter Tatiana Diplomsportlehrerin. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gingen sie 1992 nach Deutschland, nach Hameln. Mit sechs Jahren spielte Dimitrij dort auf dem Küchentisch mit Büchern als Netz, mit sieben stand er erstmals an der Platte. Immer dabei Vater Mikhail, der seinen Sohn von Beginn an förderte, ohne von dessen Karriere aber besessen zu sein. Mit acht trainierte Dimitrij vier- bis fünfmal die Woche, mit zwölf spielte er in der Oberliga. Mit 14 in der zweiten Liga. So ging es weiter, immer steil bergauf, scheinbar unaufhaltsam.

Doch die Vita ist nicht frei von Brüchen. 2010 war er am Boden. Alles schien vorbei zu sein. Er wurde nach einem Aufenthalt in China positiv auf das in der Kälbermast eingesetzte Mittel Clenbuterol getestet. Er wurde freigesprochen, weil es sehr starke Indizien gab, dass er kontaminiertes Fleisch gegessen hatte. „So eine Situation wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht“, sagt Ovtcharov, der seit 2014 mit der Schwedin Jenny Mellström verheiratet ist, seit 2016 sind sie Eltern einer Tochter.

Training so intensiv wie möglich, so oft wie möglich, so lang wie möglich. So hat Dimitrij Ovtcharov seine Arbeitsethik einmal beschrieben. Das ist der Dreisatz seiner Karriere. Es ist der unbedingte Wille zur Leistung, die Bereitschaft zur Qual, die Fähigkeit zum Leiden – kombiniert mit seiner starken Psyche. Nun ist er oben angekommen: „Weltranglistenerster zu sein, ist ein absolutes Statement.“