Europa ist dann mal weg: Bei der Tischtennis-WM ist Timo Boll als letzter Europäer ausgeschieden. Der 36-Jährige unterlag dem Topfavoriten Ma Long nach einer großen Leistung. Boll war der einzige Nicht-Asiate in der Runde der letzten Acht. Bei den Frauen war Asien im Viertelfinale ganz unter sich.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Düsseldorf - Als alles vorbei ist an diesem Sonntagnachmittag, legt der DJ „Atemlos“ auf. Im Tischtennis geht das noch ohne Pfiffe, auch eine Diskussion über die Fischerisierung des Tischtennis-Sports wurde damit auf den Tribünen nach unseren Informationen nicht losgetreten. Die 8000 Zuschauer in der Messehalle 6 in Düsseldorf hatten ja auch keinen Atem mehr, denn was sie zuvor sahen, war, nunja: großes Tischtennis.

 

Timo Boll und Ma Long hatten atemberaubend gespielt, einen Tischtennis-Thriller gezeigt, den man so nicht erwartet hatte. Am Ende verliert Boll, 36, das Viertelfinale gegen den Überspieler Ma Long 2:4, aber er war nahe dran, sehr nah dran. Im klassischen Boll-Sprech klingt das dann so: „Ich habe ganz gut mitgehalten“, sagte der Tischtennis-Star bescheiden.

Welch Unterreibung von diesem Mann, der bei der WM der Letzte seiner Art war.

Der letzte Europäer ist dann mal weg.

Timo Boll war der einzige Europäer im Viertelfinale der Männer, Dimitrij Ovtcharov, den man dort ebenfalls erwartet hatte, musste sich am Sonntag dem jungen Japaner Koki Niwa (22) geschlagen geben. Der schmächtige Linkshänder mit dem feinen Händchen, der von 2012 bis 2015 beim TTC Frickenhausen Bundesliga spielte und dort mit seinen japanischen Kollegen heute noch regelmäßig trainiert, setzte sich in einer atemberaubenden Schlacht an der Platte 4:3 durch. China (3), Japan (2), Korea und Hongkong, dazu der Tischtennis-Exot Timo Boll. Bei den Frauen war Asien im Viertelfinale ganz unter sich. Das Mixed-Bronze von Petrissa Solja mit freundlicher Unterstützung von China in Person von Fang Bo ist die einzige Medaille, die auf dem Kontinent bleibt. Europa ist dann mal weg.

Es wäre eine Sensation gewesen, auch wenn es auf dem Papier vielleicht gar nicht so aussieht. Hier die Nummer eins der Welt (Ma Long), dort die Nummer acht (Timo Boll) – an der Platte ist das ein Klassenunterschied. Ma Long dominiert diesen Sport seit Jahren. In seinen besten Momenten spielt der Olympiasieger wie eine Naturgewalt, er fegt über einen an der Platte mit seiner Wucht. Das ist die Gefahr. Es kann alles ganz schnell gehen. Es heißt, man muss ihn zum Nachdenken bringen, seinen Kopf beschäftigen, ihn ins Zweifeln bringen, was leicht gesagt ist. Und schwer getan ist.

Timo Boll gelingt es immer wieder. Den zweiten Satz holt er sich zum Ausgleich, er spielt große Bälle. Die Halle tobt. 8000 Zuschauer elektrisiert. Den vierten Satz holt er sich. 2:2. Hier liegt etwas in der Luft. Spiele gegen ma Long sind Stress. Weil jeder Ball perfekt sein muss, sonst schlägt es ein. Der fünfte Satz geht wieder an Ma Long. Aber Boll hat weiter Chancen. Ma Long macht Fehler. Ungewohnte Fehler. 8:4 führt Boll im sechsten Satz. Die Halle ist ein Tollhaus. Nochmal 9:8. Atmosphäre wie in einem Fußballstadion. Doch er verliert 9:11. Er verliert den Satz und das Spiel. Aber welch ein Auftritt war das nochmal. Wie zu seinen besten Zeiten. „Mein härtestes Spiel“, sagt der Weltranglistenerste aus China voller Respekt.

China verneigt sich vor diesem großen Europäer

Timo Boll, dieser große Europäer, ist raus aus der WM. Man hätte es dieser Jahrhundertbegabung aus dem Odenwald und diesem tadellosem Sportsmann gegönnt, am Ende seiner Karriere noch einmal eine Medaille zu gewinnen. Der Linkshänder ist Rekordeuropameister und seit bald 15 Jahren der bestimmende Spieler auf dem Kontinent. Er war so etwas wie die letzte Hoffnung Europas. Es ist ein chinesisches Jahrzehnt im Tischtennis der Männer, eine Dominanz, wie sie selbst die traditionsreiche Tischtennis-Supermacht China in seinen besten Zeiten zuvor noch nicht erlebt hat. Fang Bo, 2015 Vizeweltmeister und die Nummer neun der Welt, durfte in Düsseldorf nur Mixed spielen. . . Noch Fragen? China definiert den Status quo – und Europa hat den Anschluss verloren. Nicht nur an China, sondern auch an Hongkong, Korea und das im Zuge von Olympia in Tokio stark aufkommende Japan.

Seit 2005 hat Europa im Einzel bei Männern und Frauen zwei WM-Medaillen gewonnen: Boll holte 2011 Bronze, 2005 wurde der Däne Michael Maze Dritter. Bei den Frauen ist die Dominanz noch größer: Bei den Frauen gewann die Kroatien Tamara Boros 2003 mit Bronze die letzte Medaille für Europa. In den zurückliegenden 40 Jahren holten Chinas Frauen nur einmal nicht den WM-Titel (1993/Hyun Jung-hwa, Südkorea). Am Sonntag feierte in Düsseldorf Ding Ning mit einem 4:2 über Zhu Yuling ihren dritten WM-Titel ( es war das zwöfte rein chnesische Finale in Folge).

Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov sind heute die einzigen Europäer, die in die asiatische Phalanx eindringen können und an guten Tagen sie auch besiegen können, zumindest jenen Garde hinter den vier Top-Chinesen. „Ma Long und Fan Zhendong sind außerhalb meiner Reichtweite“, sagt Boll selbst. Allerdings hat er gezeigt, dass er auch im vergleichsweise hohen Alter eine Gefahr für China sein kann. „Ich bin wieder auf dem Level wie vorher“, sagt er. Mit vorher meint er: vor seiner Knie-Operation 2015.

Wie groß der Respekt vor Boll in China ist, zeigte schon allein die Tatsache, dass China ihm im Doppel seinen besten Spieler an die Seite stelltem Ma Long. Es war eine Verneigung vor der Lebensleistung des Timo Boll. Der Hesse gilt seit 15 Jahren in China als der Schlüsselspieler, als Chinas Endgegner. Zu seinen besten Zeiten konnte er im perfekten Moment Chinas Asse besiegen, wie beim Worldcup 2002 oder 2005 mit mehreren Siegen über Chinas Stars. Er ist dort ein Star, seine Leistungen werden noch stärker geschätzt als hierzulande, weil Tischtennis in China eine viel größere Rolle spielt.

Für Liu Guoliang ist Timo Bolls Stärke ein Wunder

Tischtennis-Boss Liu Guoliang, der Mastermind des chinesischen Tischtennis, meinte mal, dass er nicht ruhig schlafen könne, so lange Boll noch aktiv sei. Und der hat noch ein paar gute Jahre vor sich, wie er in Düsseldorf selber gesagt hat. „Für mich ist es ein Wunder, wie gut er in einem Land wie Deutschland geworden ist“, sagt liu Guoliang. Und das, obwohl ihn immer wieder Verletzungen zurückgeworfen haben und ihn vielleicht auch den Gewinn eines WM-Titel gekostet haben. Die WM in Düsseldorf war noch einmal ein Höhepunkt, ein „Highlight in meiner Karriere“, wie er sagt.

Boll hat sich mit Generationen von Chinesen duelliert, sie ein ums andere Mal besiegt, auch wenn es nie für den großen Einzeltitel gereicht hat. Sein bestes Resultat ist WM-Bronze 2011, im Doppel war er Vizeweltmeister 2005. Sein dritter Platz 2011 ist bis heute die einzige WM-Einzelmedaille seit 2009 bei den Männern, die nicht an China ging. Timo Boll weiß, dass die Zeit gegen ihn läuft, bis Tokio 2020 will er noch spielen, dannach wird man sehen. In dieser Hinsicht bleibt die einzigartige Karriere des Rekord-Europameisters voraussichtlich unvollendet.

Abere noch ist ja nicht Schluss. Am Ende dieser WM sagt Timo Boll, dass noch ein paar schöne Jahre vor ihm liegen. Für ihn geht es jetzt weiter. Bundelsiga-Finale, Turniere in Asien, eine Woche Urlaub, dann geht bald die Liga wieder los. Ein irrer Kalender. Atemlos.