Karten gehen zurück, es wird viel diskutiert: Volker Löschs "Titus-Andronicus"-Inszenierung polarisiert.

Kultur: Adrienne Braun (adr)
Stuttgart - Scharenweise haben die Zuschauer bei der Premiere von "Titus Andronicus" im Stuttgarter Staatstheater den Saal verlassen. An die 150 werden es gewesen sein. Der Regisseur Volker Lösch macht das Beste daraus. "Bei achthundert Plätzen", sagt er, "war das die Minderheit." Lösch hat Shakespeares blutrünstigstes Stück inszeniert, in dem Hände abgeschlagen werden, gemetzelt, gefoltert, vergewaltigt und am Ende auch noch Menschenfleisch serviert wird. Nichts für zarte Seelen, auch wenn das Kino oft noch Deftigeres im Angebot hat.

Eine Frage hat Lösch in den vergangenen Wochen sehr oft gehört, und sie wird auch am Samstag wieder kommen bei der nächsten Vorstellung von "Titus Andronicus": Muss man das Stück so brutal inszenieren? Es ist zwar in jedem Moment klar, dass nur Theaterblut spritzt und nicht auf echte Schädel, sondern auf Puppenköpfe eingedroschen wird, aber die Fantasie geht leicht mit dem Zuschauer durch. "Das ist ein ziemlich perverses Stück", sagt Lösch, er habe die Brutalität darum nicht "kunstgewerblich" auf die Bühnen bringen wollen. "Wenn man das macht, muss man es richtig machen."

Die heftigen Publikumsreaktionen haben den Regisseur dennoch überrascht. Wenn man sein Theater kenne - er hat immerhin zwölf Inszenierungen in Stuttgart herausgebracht - oder wenn man zumindestens vorher nachschlägt, worum es in "Titus Andronicus" geht, dann, meint Lösch, müsste klar sein, "dass das nicht auf kulinarische Weise über die Bühne rollt".

Abonnenten werden vorher informiert


Deshalb hat das Schauspiel reagiert. Die Abonnenten sind schriftlich informiert worden, dass sie ihre Karten umtauschen können. Bei der letzten Vorstellung waren es um die hundert, die daraufhin zurückgingen. Vor jeder Vorstellung gibt es eine Einführung und im Anschluss eine Diskussion mit der Dramaturgin Beate Seidel, bei der Lösch meistens auch anwesend ist. So ist das Publikum vorbereitet auf das, was es erwartet. Neuerdings verlassen nur noch um die zwanzig Zuschauer am Abend vorzeitig den Saal, wie Ingrid Trobitz, die Sprecherin des Schauspielhauses, schätzt.

Der Gesprächsbedarf ist offenbar groß. Es gibt Reaktionen, über die Lösch sich geärgert hat, wie den in der StZ veröffentlichten Leserbrief des ehemaligen SPD-Abgeordneten Peter Conradi. Der meint, Lösch und Seidel "wollen keine Diskussion, sie schlagen mit dem Holzhammer zu, weil sie uns Zuschauer für dumme Spießer halten und verachten". Das hat Lösch gewurmt, weil er "für nachhaltige inhaltliche Diskussionen" sorgen will mit seinem Theater.

Die Diskussion soll sogar elementarer Bestandteil seiner Theaterarbeit sein. In Städten wie Dresden oder Hamburg blieben oft Hunderte von Zuschauern nach der Vorstellung zum Gespräch. Auch in Stuttgart wird - entgegen Conradis Vermutung - nach dem "Titus Andronicus" "rege diskutiert", wie Lösch berichtet, "nicht nur über Ästhetik, sondern auch über den Inhalt".

Eine kranke Zivilisation


Lösch hat Shakespeares Stück verknüpft mit dem Schicksal von Flüchtlingen, die an den Grenzen Europas abgewiesen werden. "Eine Zivilisation", heißt es da, "die vor dem Problem der Flüchtlinge die Augen verschließt, ist eine kranke Zivilisation." Lösch wollte eine Debatte neu anstoßen, die in Deutschland nicht mehr geführt wird, und die "unsichtbare Rolle" Deutschlands bewusst machen.

Während des Umbaus in der nächsten Saison wird "Titus Andronicus" nicht gespielt werden, weil das in der Ersatzspielstätte aus technischen Gründen nicht möglich ist. Ob die Produktion danach wiederaufgenommen wird, erscheint fraglich, weil es nicht nur in der Presse und beim Publikum Kritik gab, sondern auch im Haus selbst nicht alle hinter Löschs Konzept stehen. Trotzdem hat der Regisseur letztlich erreicht, was er erreichen wollte: dass über soziale Fragen und über aktuelle Missstände diskutiert wird. Im Grunde ist er sogar froh, mal wieder etwas Schwerverdauliches gemacht zu haben. Bei seinen jüngsten Inszenierungen sei es fast schon zu leicht gelaufen. "Es ist wichtig, immer mal wieder eine sperrige Arbeit zu machen, danach kann man wieder etwas machen, das größere Akzeptanz erfährt."

Vorstellung Samstag, 19.30 Uhr