Kompakt und lärmig: Die Band Tocotronic hat am Sonntag im ausverkauften Theaterhaus in Stuttgart mit einem Statement-Konzert zwischen Indierock und Diskurspop begeistert.

Stuttgart - In Schwetzingen hat sich vor einigen Tagen unter dem Label Freiheitlich-konservativer Aufbruch (FKA) eine Sammlungsbewegung von CDU- und CSU-Politikern gegründet, die sich offensichtlich zurück in die 1950er Jahre sehnen und Werte wie Patriotismus, nationale Leitkultur oder traditionelle Kleinfamilie propagieren. Was das mit Tocotronic zu tun hat? Natürlich lebt der durchschnittliche Fan dieser Band Unendlichkeiten weit entfernt von solchen Neo-Biedermeier-Szenarien; dennoch muss auch er dafür dankbar sein: Das von Autoritätsansprüchen geprägte Weltbild dieser vermeintlichen „Werte-Union“ sichert Bands wie Tocotronic eine prächtige Zukunft und bildet den weiteren Nährboden für jene Musik, wie Dirk von Lowtzow & Co. sie spielen: für die Sehnsucht nach offenen Fenstern anstelle von monokulturellem Mief, nach Humanismus ohne Vorbehalte anstelle von Exklusion und Abschottung.

 

Blick nach vorne und zurück

Auch auf „Die Unendlichkeit“, dem aktuellen Album, philosophiert der Tocotronic-Frontmann präzise über diesen Kosmos aus Kleingeistigkeit und Intoleranz, über den Treibstoff, der sein Quartett seit 1993 auf Hochtouren musizieren lässt. Und natürlich gedeiht dieses Lebensgefühl keineswegs nur in der Kleinstadt – aber dort eben doch noch ein bisschen besser als in heterogeneren urbanen Kulissen.

Gleich an zweiter Stelle spielen von Lowtzow und seine Begleiter im ausverkauften Theaterhaus ein Lied über das Heranwachsen auf dem Land; „Electric Guitar“ heißt es, und es ist einer der besten Titel auf „Die Unendlichkeit“ – einem Album, das in zwölf Songs vom Erwachsenwerden erzählt. Die Hölle des jungen Dirk, seine kulturelle Reibfläche, stand in der badischen Provinz – zum „Streichholz“ wurde ihm dort eben die elektrische Gitarre. Jahre später entzündete der daraus entstandene Funkenschlag im Hamburger Großstadtschungel dann jene Karriere als Indierock-Institution, die inzwischen 25 Jahre währt.

Ein Jubiläum feiern Tocotronic also auf ihrer aktuellen Tournee, im Theaterhaus macht das Quartett daraus einen zugleich retrospektivischen wie vorwärtsgewandten Auftritt – und einen Abend, an dem sich auch langjährige Fans ein bisschen neu in ihre Lieblinge verlieben können, obwohl dieses Konzert eher berechenbar verläuft. Bandklassiker wie „This Boy is Tocotronic“ und „Macht es nicht selbst“ stehen auf dem Programm. Oder der Song „Let there be Rock“, in dem von Lowtzow um Erlösung durch Rockmusik aus einem Leben zwischen Dorfkneipe, Fußballverein und Reihenhausbeschaulichkeit fleht.

Präzise geschichteter Lärm der Premiumklasse

Gespielt ist das im bewährten Stromgitarrenduktus, in dem bisweilen noch die Schlurfigkeit vergangener Grunge-Zeiten anklingt. Überraschend klingt dabei kaum etwas – aber vieles doch derart temporeich und kompakt. Insbesondere die Fluchthymne „Aber hier leben, nein danke“ wird so zum Ereignis: eine atemlos und wütend herausgebellte Absage an morsch werdende Bürgerlichkeit.

Eine Discokugel hängt zu diesem aus Punk und Indierock gespeisten Sound über der Bühne des Theaterhaus-Saals, so einsam und unmotiviert, als sei sie aus Versehen vom Vorabend übrig geblieben. Was deplatziert wirkt, ergibt durchaus Sinn – nur wird mit dem rotierenden Glitzerballon eben nicht der stylishe Hedonismus bespiegelt, sondern das ganz normale Leben in ein etwas freundlicheres Licht getaucht. Monochrom strahlen dazu die Bühnenscheinwerfer, aber oft auch im kompletten Regenbogenfarbspektrum: Blau und Rot sind hübsch, aber bunt ist einfach besser, scheint die Lichtregie zu signalisieren. Viele Songs von „Die Unendlichkeit“ und Lieder über die Kunst des Scheiterns addieren sich fortan zu einem Konzert, das mit präzise geschichtetem Lärm der Premiumklasse begeistert – und mit Bekenntnissen der Hassliebe über das Leben in Zeiten wie diesen berührt.

Alles sitzt akkurat – auch Dirk von Lowtzows Seitenscheitel

Dabei zeigt vor allem Rick McPhail, was für ein glänzender Gitarrist er inzwischen ist. Der unscheinbare Amerikaner spielt Riffs und Soli mit der Präzision eines Informatik-Nerds, ein paar Tremoloeinlagen und Feedbacksounds inklusive. Auch alles andere sitzt akkurat – von Arne Zanks kompromisslosem Schlagzeugspiel über Jan Müllers ökonomische Basslinien bis hin zu Dirk von Lowtzows Seitenscheitel.

Mit reichlich Applaus feiern die 1500 Besucher denn auch mehr als zwei Stunden resoluten Diskursrock 4.0 – und die Band dankt mit stolzen drei Zugaben und dem Anti-Fahrradfahrer-Evergreen „Freiburg“ als Schlusspunkt ausgiebig zurück.