Immer mehr Menschen sterben an illegalen Drogen: Ein Trend, der für Stuttgart, Baden-Württemberg und die Bundesrepublik gleichermaßen gilt. Party- und Designerdrogen spielen eine Nebenrolle – noch.

Lokales: Wolf-Dieter Obst (wdo)

Stuttgart/Berlin - Der Tod tritt auf dem Sofa in einem Wohnzimmer im Stuttgarter Stadtteil Wangen ein. Heroin, die klassische harte Droge, holt sich am Nachmittag des 3. Mai ein neues Opfer: Eine 48-jährige Frau, den Behörden als langjährige Konsumentin bekannt, hat das Rauschgift nicht gespritzt, sondern geschnupft. Als ein Mitbewohner am Abend die scheinbar auf dem Sofa schlafende Frau entdeckt, ist es zu spät. Die 48-Jährige ist bereits das fünfte Drogenopfer seit Jahresbeginn in Stuttgart. Im vergangenen Jahr gab es 18 Tote – der höchste Stand seit 2004.

 

Am Montag haben der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, und die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) in Berlin Alarm geschlagen. Zum vierten Mal in Folge ist die Zahl der Drogentoten gestiegen – auf nunmehr 1333 Opfer. Und die Zahl der registrierten Drogendelikte, die etwa Handel und Beschaffungskriminalität umfasst, stieg um sieben Prozent auf 302 600 Fälle, heißt es im Jahresbericht zur Rauschgiftkriminalität2016.

Mehr Kontrollen, mehr Drogendelikte

Der Südwesten macht da keine Ausnahme. Bereits Mitte März hatte Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) bei der Vorstellung der Kriminalstatistik besorgniserregende Zahlen parat. So gab es 2016 in Baden-Württemberg 170 Drogentote – ein Plus von knapp 20 Prozent. Besonders drastisch sei die Zunahme der Todesfälle nach dem Konsum sogenannter Legal Highs, heißt es. Die Substanzen werden oft in Form von Kräutermischungen, Badesalzen oder ähnlichem verkauft und als vermeintlich ungefährliche Alternativ-Droge beworben. 14 Menschen starben daran – zehn mehr als im Jahr 2015.

Gleichzeitig stieg die Zahl der Drogendelikte in Baden-Württemberg. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 2016 knapp 40 300 Fälle erfasst, im Vorjahr waren es 37 500. Besonders Cannabis, Kokain, Ecstasy, Amphetamin und Heroin sind im Südwesten verbreitet. Den Anstieg führt das Ministerium allerdings auch auf verstärkte Kontrollen der Polizei zurück. Kein Wunder: Wer mehr sucht, findet mehr. „Die leichte Verfügbarkeit und der risikoarme Erwerb im Internet sind ein weiterer Faktor“, sagt Ministeriumssprecher Renato Gigliotti.

Designerdrogen sind auf dem Vormarsch

Noch eine Nebenrolle, allerdings mit steigender Tendenz, spielen die sogenannten Designerdrogen bei den Todesfällen in Deutschland. Laut dem am Montag in Berlin vorgestellten Jahresbericht wurden 2016 bundesweit 98 Tote durch sogenannte Legal Highs registriert – und somit fast dreimal so viele wie im Vorjahr. 2015 starben 39 Menschen infolge des Konsums solcher neuer psychoaktiver Stoffe (NPS), die meist über Onlineshops verkauft werden. Ihre Zusammensetzung ist oft nicht bekannt, was hohe Risiken für die Konsumenten birgt.

Bis vor kurzem wurde nur ein geringer Teil der neuen psychoaktiven Substanzen von der Drogengesetzgebung erfasst. Sobald ein einzelner Wirkstoff verboten wurde, tauchte schnell ein neuer auf dem Drogenmarkt auf. Ende 2016 trat ein neues Gesetz in Kraft: Statt einzelner Stoffe können nun ganze Stoffgruppen verboten werden.

BKA-Präsident Holger Münch erklärte am Montag in Berlin, dass das Angebot an illegalen Drogen weiter wachsen werde. Das zeige der Umfang an sichergestellten Substanzen und eine ungebrochen hohe Nachfrage. So seien vergangenes Jahr in Deutschland 330 Kilogramm Heroin sichergestellt worden. Bei Ecstasy stieg die Zahl sichergestellter Konsumeinheiten von knapp einer Million auf 2,21 Millionen. Immerhin: Das berüchtigte „Crystal Meth“ spielt weder in Stuttgart noch in Baden-Württemberg eine größere Rolle. Die immer größere Bandbreite verfügbarer Substanzen und der zunehmende Mischkonsum – für die Bundesdrogenbeauftragte Mortler ist dies das Hauptproblem. „Dass die Drogentotenzahlen zum vierten Mal in Folge angestiegen sind, ist keine gute Nachricht“, sagte sie am Montag.

Alles ist relativ: Viel mehr Tote in den Neunzigern

Für die Praktiker an Ort und Stelle ist dies freilich nur die halbe Wahrheit. So beklagt die Stuttgarter Drogenberatungsstelle Release, dass man gerade bei Partydrogen vorbeugend mehr tun könnte – wenn es der Gesetzgeber zuließe. Stattdessen werde ein niederschwelliges Aufklärungsangebot direkt in Clubs und Discotheken verhindert. Im Gegensatz zu anderen europäischen Nachbarländern dürfen Konsumenten von Partydrogen nicht mit einer Analyse der Pillen und Substanzen gewarnt werden. „Wir würden das Drug-Checking machen“, sagt Release-Geschäftsführer Uli Binder, „doch das geht aus juristischen Gründen nicht.“

Die hohe Zahl von Rauschgifttoten ist indes für Drogenberater Binder wie auch für die Fahnder relativ. 1992 und 1999 waren die Opferzahlen in Stuttgart sogar mehr doppelt so hoch wie 2016: 39 Tote. Im Land gab es bis zu 287 Tote. „Die Substitution hat dann zu einer Reduzierung der Todesopfer beigetragen“, sagt Binder. Drogenabhängige seien über diesen Weg zunehmend in medizinische Behandlung gekommen.

Die Stuttgarter Polizei spricht derweil von einer „Renaissance des Heroins“, so der Stuttgarter Kripochef Rüdiger Winter. Sowohl die Zahl der Delikte als auch die Sicherstellungsmengen hätten zugenommen. Das Angebot finde immer noch seine Abnehmer. Der jüngste Todesfall der 48-Jährigen in Stuttgart-Wangen ist ein trauriger Beleg.