Jan Neumann inszeniert "Tod eines Handlungsreisenden" am Staatstheater. Elmar Roloff spielt die Titelfigur des Durchschnittsmenschen.  

Stuttgart - Sie entspricht mit Sicherheit nicht dem feministischen Ideal einer selbstständigen Frau, diese Linda Loman, die Gabriele Hintermaier mit sparsamen Gesten und wenigen Gängen entwirft. Wenn sie aber - ein spätes Echo auf Gorki - erklärt, warum ihr Mann Willy, ein Versager in einer Gesellschaft, die Erfolg fordert, Achtung verdient, dann wirkt sie bis zur Sentimentalität menschlich.

 

Willy Loman, den bekanntesten Handlungsreisenden der Weltliteratur, spielt Elmar Roloff. Elmar Roloff ist einer der interessantesten und sympathischsten Schauspieler am Stuttgarter Theater. Seit 18 Jahren gehört er dem Ensemble an, und seine Bewunderer mussten zunehmend bedauern, dass er nicht häufiger auf der Bühne stand. Jetzt ist er in einer Traumrolle zu sehen, und man darf ahnen, dass die 150 Sitzplätze der Spielstätte Nord nicht ausreichen werden für die 19 Vorstellungen, die vorgesehen sind. Ein Trost: das Nord bleibt für Wiederaufnahmen erhalten, wenn das Provisorium in der Türlenstraße in der nächsten Spielzeit seine Pforten schließt.

Die Nöte sind dem Theaterpublikum nicht fremd

Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" wurde 1949, vor immerhin 62 Jahren, uraufgeführt. Es gibt nicht viele Theaterstücke aus den Nachkriegsjahren, die heute noch auf dem Spielplan stehen. "Tod eines Handlungsreisenden" aber scheint unverwüstlich. Er gehört zum Repertoire wie die Dramen von Shakespeare oder Tschechow. Woran mag das liegen? Was verleiht diesem auf den ersten Blick so typisch amerikanischen Stück diesen bemerkenswerten Status? Es dürfte dafür vier unterschiedliche Gründe geben, die in ihrer Summe ihre Wirkung tun. Zunächst gehört die Titelfigur zu den attraktivsten Rollen, die die Dramatik des 20. Jahrhunderts einem nicht mehr ganz jungen Schauspieler anzubieten hat. Kaum ein Charakterdarsteller würde sie ablehnen. Sie erlaubt ihm, Nuancen zu gestalten, erkennbar werden zu lassen, was der Figur selbst nicht bewusst ist, beim Zuschauer komplexe Reaktionen auszulösen - Mitleid und Verärgerung, Verständnis und Kritik.

Willy Loman lädt zur Identifikation ein und fordert zugleich zur Distanz auf. Seine Nöte sind einem mittelständischen Theaterpublikum nicht fremd, aber es möchte nicht so sein wie er. Loman nervt vor allem durch seine Unbelehrbarkeit. Keine Erfahrung kann ihn von seinen Illusionen befreien. Wenn er kurzfristig zu einer Einsicht gelangt, verdrängt er sie gleich darauf wieder. Biffs Schock über den Ehebruch des Vaters ist nur noch eine Pointe vor dem voraussehbaren tragischen Ende Lomans.

Die Dialoge sind realistisch und poetisch zugleich

Ein zweiter Grund für den anhaltenden Erfolg von Arthur Millers neben "Hexenjagd" bekanntestem Stück dürfte darin liegen, dass es zwar in der Tradition des von Ibsen geprägten psychologischen Realismus steht, aber doch gerade so viel an Moderne enthält, dass es nicht altbacken wirkt. Insbesondere die filmischen Techniken, derer sich der Autor bedient, entsprechen den alltäglichen Sehgewohnheiten. "Tod eines Handlungsreisenden" ist unmittelbar verständlich, aber ästhetisch hinreichend raffiniert, um nicht platt zu wirken.

Die Dialoge sind realistisch und poetisch zugleich, glänzend formuliert und in einander gefügt. Das ist heute auf der Bühne eher selten geworden, aber durch Film und Fernsehen vertraut. Man hört Millers Figuren gerne beim Reden zu.

Die Aufmerksamkeit gilt dem Ablauf

Ein dritter Grund für das gegenwärtige Interesse beruht wohl in der Tatsache, dass das Problem drohender Arbeitslosigkeit an Aktualität eher zu- als abgenommen hat. Wir leben im Prinzip in jener bürgerlichen Gesellschaft, in der das Stück spielt und für die - auch das wissen wir seit Ibsen - die Lebenslüge konstitutiv ist. Die Tragödie Lomans kann so nur in einer Gesellschaft stattfinden, in der sich der Wert des Menschen durch beruflichen Erfolg und Karriere definiert. Wer ihren Ansprüchen nicht genügt, muss sich und anderen etwas vormachen. Nichts scheint bedrohlicher, als der Status des Versagers.

Schließlich könnte es am Titel liegen, dass dieses Stück nicht in Vergessenheit geraten ist. Es ist ein genialer Titel. Nicht der Name eines Individuums, eine Berufsbezeichnung, noch dazu mit unbestimmtem Artikel, steht da. Und noch ehe die Aufführung beginnt, weiß der Zuschauer, wie das Stück enden wird. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Ablauf, nicht dem Ausgang. Loman ist kein Hamlet. Deshalb heißt Millers Stück nicht "Loman" und Shakespeares Drama nicht "Tod eines Prinzen".

Silhouette eines Cinderella-Schlosses

Jan Neumann verdankt das Stuttgarter Schauspiel eine seiner aufregendsten Inszenierungen: "Fundament". Diesmal freilich musste sich der experimentierfreudige Regisseur ganz anderer Mittel bedienen als bei seinem eigenen Stück. Dabei kommt ihm das Bühnenbild von Daniel Angermayr und Thomas Goerge zu Hilfe. Es zeigt zunächst die Silhouette eines Cinderella-Schlosses, umgeben von Comicfiguren und Symbolen, die auf die USA verweisen. Wenn sich die Bühne dreht, wird das karge, von schwachen Glühbirnen erleuchtete Zuhause der Lomans sichtbar. Hier findet der größte Teil des Dramas statt. Die Visionen aus der Vergangenheit oder aus der Fantasie sind vor das Märchenschloss platziert, wo in Goldpapier verpackte Bonbons und rote Konfetti vom Himmel fallen.

Roloff spielt den Handlungsreisenden ohne spektakuläre Kunststückchen, als einen durchschnittlichen Menschen, der mit der Realität nicht zurecht kommt. Claudius von Stolzmann und Matthias Kelle sind, mit differenzierten Tönen und starker Präsenz, seine Söhne Happy und Biff, ein Kleptomane der eine, ein Weiberheld der andere, die mit dem Vater in Konflikt geraten. Die Figur von Willys Bruder Ben aber, die vielleicht überhaupt nur in dessen Fantasie existiert, hat man im Nord aus unerklärlichen Gründen gestrichen.