Im Stuttgarter Schauspielhaus inszeniert Robert Borgmann den „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller. Peter Kurth spielt den Titelhelden Willy Loman. An dieser tragischen Figur ist aber weder der Schauspieler noch der Regisseur wirklich interessiert. Sie hangeln sich lieber von Einfall zu Einfall.

Stuttgart - Am Anfang war das Wort, heißt es im Evangelium des Johannes. Das Evangelium indes, das uns der Regisseur Robert Borgmann predigt, lautet anders. Wortlos steht bei ihm am Anfang nichts als der rote Bühnenvorhang: Ganz langsam schiebt er sich von der Rückwand nach vorne an die Rampe, wird dabei ebenfalls langsam größer gezogen und kehrt dann abermals langsam an die Rückwand zurück – ein Vorgang, der mehrere Minuten dauert, von leise sirrender Livemusik begleitet wird und dem Zuschauer wie eine heilige Handlung vorkommen soll. Der Vorhang im Theater: Er verhüllt und enthüllt, er deckt zu und deckt auf und bietet sich, solange er geschlossen ist, als Pforte in eine andere Welt an. Derart künde er vom Ritual des Übergangs und der Verwandlung, wie es sinngemäß im Programmheft heißt. Doch was klug gedacht ist, zugegeben, muss szenisch nicht unbedingt ergiebig sein. Es gibt Aufregenderes, als einen in Demut bewegten Vorhang zu verfolgen.

 

Gefühlte fünf Minuten geht das so, bis sich im Stuttgarter Schauspielhaus endlich eine Figur aus der Verhüllung wickelt: Willy Loman, der titelgebende Handlungsreisende, von dessen Tod uns Arthur Miller in seinem Drama berichtet. 34 Jahre lang ist der Vertreter mit seinen zwei Musterkoffern durchs Land gereist, von Montag bis Freitag, Woche für Woche, um sich seinen Traum vom American Way of Life zu erfüllen. Doch der Traum ist zum Albtraum geworden, der Handlungsreisende gehört mit 63 zum alten Eisen und arbeitet auf Provision, obwohl das kleine Haus in Brooklyn noch nicht abbezahlt ist. Aber Willy, müde und erschöpft vom rastlosen Schuften, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit und flüchtet sich in Illusionen, auch über die beiden Söhne Biff und Happy, die seine Erwartungen nicht erfüllen konnten: Die Lomans lügen sich das Leben zurecht, bis sie ihren eigenen Lebenslügen glauben – und daran am Ende zugrunde gehen. Dass das 1949 in New York uraufgeführte Drama zum Welterfolg wurde, liegt an diesem Plot, dieser schonungslosen Kritik amerikanischer Verhältnisse. Es liegt aber auch an der unerschrockenen Kühnheit, mit der Miller den psychologischen Bühnenrealismus immer wieder durchlässig macht für szenisch herbeigespielte Erinnerungsfetzen, die durch Willys Kopf spuken. Gegenwart und Vergangenheit, Bewusstsein und Unterbewusstsein, Realität und Fiktion vermischen sich in einem flirrenden Spiel.

Todeskrähe im Tutu

Und was macht der Regisseur aus dieser streckenweise vorhandenen Grenzverwischung ? Er dehnt sie gleich über das gesamte Stück aus und erhebt sie zum Inszenierungsprinzip, wobei ihm zupasskommt, dass der einige Jahre mit Marilyn Monroe verheiratete Arthur Miller seinem Zweiakter ein kurzes, die Beerdigung von Willy Loman umfassendes „Requiem“ angefügt hat. Gesplittet in einzelne Passagen, streut Borgmann diese Totenmesse wie Asche ins Geschehen ein und will überhaupt die Trauer um den Verstorbenen zur ganzen Tonart der Inszenierung machen. Die Bühne, vom Regisseur selbst entworfen, liegt ohne Unterlass im Dämmerlicht und ähnelt mit seinen sparsam eingesetzten Requisiten einer finsteren Gruft. Und diese leere, wüste Unterwelt ist es auch, die der Handlungsreisende nach der lange weilenden Vorhang-Ouvertüre betritt.

Und schon reibt man sich die Augen: Willy Loman, barfüßig und barbusig, trägt ein rabenschwarzes Tutu mit kleinem Vogelschwänzchen hintendran, als wolle er auf der Stelle ein Tuntenballett aufführen. Ja, Peter Kurth sieht in seinem aufgeplusterten Kostüm nicht vorteilhaft aus, was sich erst ändert, als er sich nach gefühlten fünfundvierzig peinlichen Minuten aus dem Tüll der dicken Todeskrähe schält und zum kleinen Angestellten mit Anzug und Krawatte wird. Der Vorhang hat nicht zu viel versprochen: Willy verwandelt sich. Wow! Und er verwandelt sich weiter, wenn er als Clown mit roter Pappnase und blauer Perücke zu seinem Chef aufbricht, um seine Versetzung in den Innendienst zu erbitten . . .

Mit dabei: George Washington

Man kann Willy Loman so zeichnen. Man kann in ihm einen Menschen sehen, der nicht merkt, dass er aus der Zeit gefallen und darüber zur Witzfigur geworden ist. Borgmann neigt zu dieser Sichtweise und vernachlässigt darüber die Charakterstudie, die Miller in seinem modernen Klassiker mit auch heute noch beklemmender Präzision vorgelegt hat. Statt sich um Psychologie zu kümmern, hangelt sich der Regisseur also von Einfall zu Einfall, obwohl er in seinem Bemühen sichtlich auf die große Tragödie eines alternden Mannes zielt: Wenn Kurth/Loman allein auf der Bühne sitzt, geistig verwirrt von Blumen- und Gemüsebeeten träumend, beleuchtet von einer Neonröhre, erinnert er an Shakespeares Lear, den verlorenen König auf der Heide – eine Anspielung in einem Heer voller Anspielungen, zu der auch der personifizierte amerikanische Traum gehört.

Über die verpassten Möglichkeiten des Lebens sinnierend, lässt Loman immer wieder seinen Bruder Ben, der in Alaska und Afrika sein Glück gemacht hat, im Kopfkino auftreten. Der Abenteurer steckt in einem Barockkostüm mit weißer Perücke und sieht aus wie einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten: Steif deklamiert Robert Kuchenbuch den ersten Präsidenten George Washington herbei. Dass dieser Bursche mittlerweile nur noch als toter Reiter auf einem steinernen Denkmal sitzt, auch diesen Hinweis gibt uns die Regie noch mit auf den Weg: Irgendwann rollt ein Pferd über das Bühnenland der unbegrenzten Möglichkeiten.

Der Chef und die Sexpuppe

Und wo bleibt das Positive in dieser konzeptlos verkopften Inszenierung? Neben Peter Kurth stehen unter anderem noch Elmar Roloff und Manuel Harder auf der Bühne. Roloff zeigt als Nachbar Charley eine wunderbare spielerische Beweglichkeit, die jene von Kurth bei Weitem übertriff. Und Harder verleiht Biff, dem Erstgeborenen der Lomans, jene pulsierende Energie, die das Rebellische seines Wesens beglaubigt. Und natürlich lässt auch der Regisseur selbst, der mit seinem Stuttgarter „Onkel Wanja“ 2014 beim Berliner Theatertreffen gastierte, zumindest in einer Szene sein Können aufblitzen.

Manche Borgmann-Idee führt ja durchaus zu einem guten Ende: Howard, der Chef, zu dem Willy als pappnasiger Clown aufgebrochen ist, spielt im Büro mit einem von Birgit Unterweger verkörperten weiblichen Roboter. Der neueste Schrei: „Modell Marilyn“, erklärt der erotisierte Boss – und als er das Büro verlässt und Willy allein lässt, dringen aus dem Mund der Sexpuppe jene Worte, die Lomans Ehefrau bei seiner Beerdigung erst noch sprechen wird: „Ich kann nicht weinen. Ich weiß nicht, was los ist, aber ich kann nicht weinen“, stottert der traurige Roboter. „Abschalten“, brüllt der sich vor Angst und Verzweiflung jetzt in seinen Stuhl krallende Handlungsreisende, bevor der Chef zurückkommt und kurzerhand ihn selbst, den vormals stolzen Willy Loman, abschaltet und als Arbeitsloser an die Rampe kippt. Eine starke, sinnliche, vieldeutige Szene, die man mit Hochspannung verfolgt! Mehr davon hätte den in seiner Überambitioniertheit matt geratenen Abend im Schauspielhaus retten können.